Hinanduas Worte verhallten und hinterließen erneut einen Moment der Stille. Niemand wollte seine Stimme erheben. Auch Cichianon und Doriando schwiegen. Unter dem hohen Dachgewölbe war nur noch das geheimnisvolle Summen des riesigen Steines zu hören. Im dämmrigen Licht der Halle funkelte und glitzerte er, wie von silbrigem und goldenem Sternenstaub überzogen. Hin und wieder schien ein Leuchten von dem gewaltigen Felsen auszugehen. Endlich fasste sich Cichianon ein Herz:
“Weiser Hinandua, ehrwürdige Mitglieder des Rates! Ihr habt uns nach Ildindor gerufen, um Engil eine Stimme zu geben im Angesicht Gildanmirs, der die Weisheit der Welten in sich trägt. Ich will also jetzt zu euch sprechen, so wie es den Mitgliedern des ehrwürdigen Rates gebührt und Gildanmir, der mit Feuer vom Himmel Gekommene, möge bezeugen, dass ich wahr spreche. Auch wir Elfen in Engil haben die Gerüchte vom Wiedererstarken des Unerhörten vernommen. Auch wir sind sehr beunruhigt, zu erfahren, dass die Dinge in Fasolanda in Unordnung geraten sind. Es ehrt uns sehr, dass der Rat uns die Aufgabe anvertrauen will, in die Hauptstadt zu gehen, um die Sache des Elfenvolkes dort zu vertreten. Doch ich bitte euch um etwas Geduld. Wir wollen zunächst unsere Kräfte sammeln und dann sehen, mit welchen Mitteln wir dem Unerhörten entgegentreten können. Wir hoffen, dass das Menschenmädchen Sinja mit dem `flammenden Herz´ und dem Zauberbogen zu uns stößt. Das würde vieles leichter und uns erheblich stärker machen. Dem Vernehmen nach soll der Kreis der Weisen mit ihr Kontakt aufgenommen haben. Ich bitte euch also: lasst uns nach Engil zurückkehren, um mit unseren Freunden die Lage zu beraten und dann eine Entscheidung zu treffen.“
Erhebliche Unruhe entstand unter den Ratsmitgliedern nachdem Cichianon seine Rede beendet hatte. Alle tuschelten und redeten durcheinander. Einige schauten Cichianon und Doriando grimmig an, andere abschätzig. Schließlich erhob sich Gisandela, eine große, schlanke Elfenfrau mittleren Alters von ihrem Sitz. Sie hatte glattes, weißes Haar, das ihr über die Schultern und den Rücken fiel, war in einen bodenlangen, dunklen Umhang gekleidet und trug einen Langbogen mit sich, der aufgestellt so groß war, wie sie selbst. Sie wartete, bis Ruhe im Saal eingekehrt war und sprach dann zu den Anwesenden:
„Weiser Hinandua, ehrwürdige Mitglieder des Rates! Ich kann nicht glauben, was wir hier zu hören bekommen von Cichianon von Engil, einem der Helden der `Schlacht der vier Heere´. Doriando… Emelda… Amandra… Gamanziel… Ferendiano… Cichianon? Elfen von Engil, hat euch der Mut verlassen? Ist euch das angenehme Leben in den Wäldern von Adagio zu Kopfe gestiegen. Hat es euch weichgemacht? Seid ihr nicht mehr in der Lage, Freund von Feind zu unterscheiden und entsprechend zu handeln? Der Rat hat euch auserwählt nach Fasolanda zu gehen und, wenn nötig, dem Unerhörten entgegenzutreten und wir hatten gute Gründe für diese Wahl. In vielen Kämpfen habt ihr bewiesen, dass es an Mut, an Kraft, an Geschicklichkeit und Klugheit wenige mit euch aufnehmen können. Doch die Worte, die ich heute von dir höre, Cichianon, zeugen nicht von Mut und Klugheit. Sie zeugen von Verzagtheit und Wankelmut. Sind das die Helden von Engil? Sind das die, die auf den Mauern Fasolandas standen und gegen eine übermächtige Armee aus Morendo den Sieg errangen? Ich glaube nicht, dass es einen Grund für euch geben sollte, den Auftrag des Rates zurückzuweisen. Ihr solltet, sobald als möglich, den Weg nach Fasolanda antreten und dort tun, was zu tun ist! Ferendil, das Schwert von Ildindor soll euch begleiten, euch schützend zur Seite stehen und dafür sorgen, dass ihr auch von diesem Kampf siegreich zurückkehren werdet!“
Mit diesen Worten drehte sich Gisandela herum, trat einige Schritte aus dem Kreis der Ratsmitglieder heraus und holte hinter ihrem Ratssitz ein mächtiges Schwert hervor. Ein Raunen ging durch den Saal. Mit beiden Händen hielt sie die Waffe über ihren Kopf. Erneut kam Unruhe auf unter den Versammelten.
„Das Schwert der Könige!“
„Ja, hier ist Ferendil, das Schwert der Fürsten von Ildindor, geschmiedet mit Feuer und Eisen in den Bergen des Nordens!“, rief Gisandela. „Dieses Schwert hat eine Bestimmung. So steht es geschrieben. Und diese Bestimmung ist die Befreiung der Königin aus ihrer Gefangenschaft.“
Sie zeigte, wie zum Beweis ihrer Macht, jedem der Anwesenden die Klinge. Sie war mit Silber beschlagen und so lang, wie der ausgestreckte Arm eines erwachsenen Mannes. Im Lichte Gildanmirs blitzte sie wie Gisandelas eisblaue Augen. Der Schwertgriff war mit dunklem Leder umwickelt und durch langgezogene Fäden aus grün schimmerndem, oxidiertem Kupfer mit der Klinge verwoben. Aus dem Griff heraus wuchsen, links und rechts zwei grimmig schauende Drachenköpfe. Das Wappen der Elfenherrscher prangte auf der Parierstange: der Wolfskopf vor dem Silbermond. Hinandua nahm das Schwert ohne Regung entgegen.
Cichianon sah die mächtige Waffe und erschrak. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was geschehen war. Hatte Gisandela, Mitglied des ehrwürdigen Rates der Elfen, die Engilaner gerade aufgefordert, in den Kampf gegen den Unerhörten zu ziehen? Wollte sie seinen Tod? Wollte sie ihn und seine Freunde in eine Schlacht schicken, die nicht zu gewinnen war? Er versuchte, seine Entrüstung zu verbergen, ging einen Schritt nach vorne, auf den Sitz des Alten zu und sprach:
„Hinandua, weiser Meister, ist es das, was du uns gelehrt hast? Zum Schwert zu greifen, wo wir noch nichts wissen von Schwertern des Feindes? Sollen wir in eine Schlacht ziehen, ohne zu wissen, wer unser Gegner ist und mit welchen Waffen er kämpft? Sollen wir einen erneuten Krieg beginnen, wo wir noch gar nicht wissen, ob wir ihn überhaupt führen müssen?“ Dann drehte er sich herum und wandte sich mit bebender Stimme an die übrigen Ratsmitglieder.
„Mit dem Schwert gegen einen unbekannten Gegner ziehen. Kampf um des Kampfes willen? Krieg, um des Krieges willen? Ist es das, was der weise Hinandua uns gelehrt hat? Oder ist es die Klugheit, in Ruhe zu beobachten, um im rechten Moment das Richtige zu tun?
Ich denke, das ist es, was Hinandua uns Elfen allezeit mit auf den Weg gab. Dass Klugheit und scharfe Sinne oft stärkere Waffen sind, als das beste Schwert. Wollt ihr Doriando, meine Freunde und mich wirklich in einen Kampf schicken ohne dass wir uns darauf angemessen vorbereiten? Wollt nicht auch ihr, dass wir möglichst viele Kräfte vereinen, um dann nach Fasolanda zu gehen und zu tun, was notwendig ist? Viel darf uns die ehrwürdige Gisandela unterstellen, aber nicht, dass wir aus Verzagtheit oder Wankelmut den Kampf vermeiden. Wenn er geführt werden muss, dann sind wir Elfen von Engil die ersten, die zum Bogen greifen. Doch so weit ist es nicht. Daher bitte ich euch: Lasst uns nach Engil zurückkehren, unsere Freunde benachrichtigen und mit frischen Kräften die Reise antreten!“ „Feiglinge!“, schrie Gisandela und sprang auf. Ihre Augen funkelten vor Kampfeslust.
„Ehrwürdige Mitglieder des Rates! Ich bitte euch“, schritt Hinandua ein. Er hob beide Arme. Allmählich beruhigten sich die Anwesenden. Diejenigen, die bei Gisandelas Worten aufgesprungen waren, nahmen ihre Plätze wieder ein.
„Meine lieben Söhne! Gisandela ist Mitglied dieses Rates als Vertreterin einer der besten Sippen der Fanandu. Ihr Vater, Fislandor, war ein angesehener Anführer unserer Soldaten. Ihre Mutter Amandel ist die Tochter des ehemaligen Präfekten von Windigerèn. Aus ihren Worten, da bin ich sicher, spricht nicht Hass. Aus ihnen spricht der Stolz auf Ildindors Geschichte und seine einstige Macht und sie hat recht. Ich sage euch, Fanandu, das Volk der Elfen, hat in seiner Geschichte Großes und Großartiges vollbracht. Unsere Fürsten herrschten über Territorien jenseits des großen Meeres, besaßen unermessliche Reichtümer. Unsere Meister beherrschten die Kunst der weißen Magie. Unsere Gelehrten schrieben unsere Geschichten in tausende von Büchern und unsere Geschichten wurden zu unserer Geschichte. Das Volk der Fanandua schuf Bauwerke von nie gekannter, ewiger Schönheit. Häuser, Paläste, Brücken und Plätze, die noch heute ihresgleichen suchen in allen Welten. Es gibt keinen Grund, warum wir nicht stolz sein sollten auf diese Leistungen. Und doch haben wir nicht nur Grund, stolz zu sein auf unsere frühere Stärke. Wir haben mindestens genauso viel Grund, stolz zu sein auf unsere Gegenwart. Nicht nur auf das, was wir waren. Auch auf das, was wir sind: ein starkes Volk inmitten starker Völker, in dem jeder seine Stimme hat. Ein Volk, das in Frieden, Respekt und gegenseitiger Achtung mit seinen Nachbarn lebt. Das ist in dieser gefährlichen Welt nicht selbstverständlich. Doch ich höre aus den Worten Gisandelas auch Furcht. Die Furcht vor dem Unbekannten. Furcht vor dem Finsteren. Vor dem, der