„Wie kommst du darauf?“
„Na ja, es war dieses silbrige Schimmern, wie immer, wenn sie uns rufen.“
„Sinja?“
„Möglich! Auf jeden Fall muss es einer der Berufenen gewesen sein, sonst hätte ich es nicht so intensiv fühlen können.“
„Vielleicht ist die Nachricht endlich bei ihr angekommen und sie versucht, dich zu erreichen!“
„Ja, mag sein.“
„Das würde auch erklären, warum ich nichts gespürt habe. Sie hat das E gespielt.“
In diesem Moment wurde Emelda erneut von einem heftigen Zittern erfasst. Ihr Körper verlor ganz allmählich seine Farbe. Er wurde milchig und durchscheinend und begann, sich in seine Bestandteile aufzulösen.
Sinja hatte ein weiteres Mal über die zweite Saite gestrichen. Wieder das E, diesmal etwas kräftiger, lauter. Ein silbrig hellblauer Lichtschimmer legte sich um das, was von Emelda noch zu sehen war und hüllte sie ein wie eine glitzernde, funkelnde Schale. Die zog sich bis auf einen winzigen Punkt zusammen, dehnte sich wieder aus, bis sie die Größe von Emeldas Körper erreicht hatte, zog sich erneut zusammen und...explodierte mit einem hellen Blitz. Emelda war verschwunden. Nichts deutete mehr darauf hin, dass sie noch vor wenigen Augenblicken gemütlich unter den gewaltigen Blättern des Riesenfarns gelegen hatte. Lediglich ihr Bogen und der Köcher mit den Pfeilen waren zurückgeblieben und, für wenige Sekunden, der Nachhall eines Geigentons.
„Emmi?“, rief in diesem Moment eine Mädchenstimme aus einiger Entfernung, „Emmi, bist du hier?“
„Hallo, wer ruft da?“, antwortete Ferendiano aus seinem Blätterverschlag.
„Ich bin es. Gamanziel! Ich bin auf der Suche nach Emelda!“
„Ich fürchte, du kommst um ein Vierundsechzigstel zu spät. Sie hat sich vor wenigen Augenblicken in die Menschenwelt verabschiedet.“
„Wie? Darüber wollte ich gerade mit ihr sprechen. Es ist eine Nachricht aus Fasolanda bei uns eingetroffen. Zabruda Menroy, Königin Myrianas Schlossverwalter schrieb, wir sollten uns darauf vorbereiten, zu dritt in die Menschenwelt zu reisen. Sie hätten Sinja einen Glissando mit einer Botschaft geschickt, in der sie sie auffordern uns drei zu rufen. Was ist schiefgelaufen?“
„Drei?“
„Ja, Amandra sollte mitkommen. Emelda, Amandra und ich! Wir alle drei, wie beim letzten Mal. Und jetzt ist Emmi alleine unterwegs? Bei allen Geistern, hoffentlich geht das gut!“
„Warum sollte das nicht gut gehen? Es ist ja nicht das erste Mal, dass Emelda drüben ist. Wo steckt denn Amandra?“
„Na wo schon? Als ich gegangen bin, hat sie sich gerade nochmal rumgedreht. Ich denke, sie pennt noch!“
„Dann sollten wir sie jetzt mal wecken und beratschlagen, was wir tun wollen“, sagte Ferendiano.
„Ja, ich geh´ sie holen! Bleib´ du solange hier und bereite einen kleinen Imbiss vor. Wenn Amandra aufwacht, wird sie Hunger haben und wenn sie müde ist und Hunger hat, ist sie unausstehlich.“
„Buh, buh! Amandra, das A! Dann wollen wir mal lieber ein Frühstückchen bereitstellen, bevor unser Tiger um die Ecke kommt. Ich bereite alles vor. Geh du die Bestie wecken!“
9 (7/3)
Ein silbrig- bläulicher Schimmer erschien über Sinjas Geige. Die Luft über dem Instrument begann zu schwingen. Ah!, dachte sie, es ist wie damals. Jetzt müssten bald die Elfen auftauchen und dann ist alles gut. Hoffentlich klappt das! Ich habe nur diesen einen Versuch. Ich muss die anderen Töne spielen, aber wenn ich noch mehr spiele, wird das zu laut…ich muss,… ich muss…!
Sie hatte den Satz noch nicht fertig gedacht, da erschien zwischen den Luftsäulen über der Geige das Bild eines Mädchens, mit langen, roten Haaren und grünen Augen. Sie steckte in einem knallroten, hautengen Dress…und sie hatte Flügel auf dem Rücken, die aussahen, wie die Fähnchen von Achtelnoten.
„Sinja?“, rief das Mädchen aus dem Bild heraus.
„Ja!“, antwortete Sinja, „nicht so laut! Emelda, bist du das?“
„Ja! Ich bin das! Wen hast du erwartet?“
„Pscht! Nicht so laut, bitte! Wenn meine Mutter uns hier erwischt, sind wir erledigt!“
„Gut, verstanden! Das kann niemand wollen! Machen wir´s kurz. Warum hast du mich gerufen?“
„Ich habe euch gerufen, weil ihr mir einen Glissando mit einer Nachricht geschickt habt. Die Nachricht lautete E G A. Ich habe daraus geschlossen, dass ihr wollt, dass ich euch rufe und das habe ich hiermit getan!“
„Messerscharf kombiniert, wie immer! Aber warum hast du nur mich gerufen? Warum nicht alle drei?“
„Um Gottes Willen! Das ging nicht! Wenn ich die ganze Melodie gespielt hätte, wäre meine Mutter aufmerksam geworden. Wahrscheinlich hätte ich dann auch noch meine Schwester auf dem Hals gehabt. Ich kann mich ja nicht mitten in der Nacht hier hinstellen und mal eben Geige spielen. Was denkst du dir?“
„Na, jedenfalls war das nicht E G A, sondern nur E. Also mit Gamanziel und Amandra brauchst du nicht zu rechnen.“
„Na gut! Warum sollte ich euch rufen? Was ist los bei euch?“
„Ich weiß es nicht! Der Glissando mit der Nachricht kam nicht von uns, zumindest nicht von mir!“
„Aber, wenn er nicht von euch kam, von wem dann?“
„Diese Frage kann dir vielleicht Königin Myriana beantworten oder der Magus. Ich kann es beim besten Willen nicht. Ich fürchte, du wirst mich nach Dorémisien begleiten müssen, wenn du eine Antwort haben willst.“
„Na prima! Und wer geht dann nachher für mich zur Schule?“, fragte Sinja und lächelte verkniffen.
„Wie? Willst du mich nicht begleiten?“
„Natürlich werde ich dich begleiten! Ich werde doch meine Freundinnen nicht im Stich lassen! Ich habe zwar keine Ahnung, worauf ich mich einlasse, aber das bin ich von euch ja gewöhnt! Also los!“
„So kenne ich dich!“, rief Emelda, „diese wilde Entschlossenheit – ich liebe sie!“
„Und? Wieder der Spiegel?“, fragte Sinja.
„Wenn du unbedingt willst!“
„Wenn das nicht wieder mit einer elend langen Reise durch die Ebene und die Berge von Andante verbunden ist! Das brauche ich, ehrlich gesagt, nicht nochmal. Was wäre denn sonst noch so im Angebot?“
„Heh! Ich bin kein Reiseberater! Du weißt, es gibt verschiedene Portale. Der kürzeste Weg ist sicher der, durch den du damals in die Menschenwelt zurückgekommen bist. Damit würden wir allerdings direkt im Schlossgarten von Königin Myriana landen.“
„Und…was spricht dagegen? Dann wären wir gleich da, wo wir wahrscheinlich sowieso hinmüssen!“
„Woher willst du das wissen?“
„Och! Nur so ´ne Ahnung!“
„Wenn du dich da mal nicht täuschst!“
„Weißt du denn, worum es geht?“
„Nein! Tut mir leid. Diesmal habe ich leider keine Ahnung! Man hat uns bislang nicht informiert. Doriando und Cichianon sind vorhin zusammen fortgeritten, um sich mit Hinandua und den Alten zu beraten. Wir hoffen, dass wir schlauer sind, wenn die beiden von Ildindor zurück sind.“
„Emelda, wir sollten langsam zusehen, dass wir hier wegkommen. Egal wie! Bald klingelt mein Wecker und dann sollte ich nicht mehr hier sein, sonst wird aus der ganzen Reise nichts.“
„Spiegel?“
„Gut,