Ein ganzes Leben Ewigkeit. Hans Muth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Muth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748590750
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Kapitel

       Zeit für Erinnerung

      Emilie hatte lange und gut geschlafen in den darauffolgenden Nächten. Der Flug von Pescara nach Frankfurt hatte sie mehr mitgenommen, als der Hinflug nach Italien. Ja, auf dem Hinflug, da war noch alles neu für Emilie und schon beim Einchecken in der Halle des Flughafens hatte ihr Herz Purzelbäume geschlagen.

      Diese Menschenmengen! Sie konnte sich nicht erinnern, schon einmal so viele Menschen beisammen gesehen zu haben. Und die Geschäftigkeit, mit der die Leute aneinander vorbeiliefen und immer nur ihr Ziel vor Augen hatten! Keiner kannte den anderen, alle waren sich fremd, jeder hatte sein eigenes Ziel, seine eigenen Probleme.

      Dann hatte Emilie vor der riesigen Anzeigetafel gestanden und der sich in rasender Geschwindigkeit verändernden Buchstabenfolge zugesehen. Und als sie dann mit Juli und Rafael den Terminal verlassen hatte und in der Wartehalle stand und die Nase der Boeing in Wartestellung fast bis zu ihr an die Glasscheibe reichte, da stieg ihre Aufregung ins Grenzenlose und Zweifel überkamen sie, ob sie denn überhaupt in diesen Vogel steigen sollte.

      Doch als sie sich dann zwei Stunden später auf dem Sitz Nr. 84, es war ein Fensterplatz, niedergelassen hatte, schwanden ihre Bedenken langsam und wichen einer Erwartungshaltung. Wie würde es sein da oben, über den Wolken? Alle schwärmten so davon, von der Freiheit, dem herrlichen Ausblick und der Weite, die sich vor dem Betrachter ergoss. Von ihrem Nebenmann nahm sie kaum Notiz. Es hatte sich leider nicht so ergeben, dass sie in der unmittelbaren Nähe von Juli und Rafael einen Platz bekam. Emilie saß zwei Reihen weiter nach vorne auf der rechten Seite, Juli und ihr Mann dagegen schräg hinter ihr auf der linken Seite. Wenn sich Emilie aber umdrehte, konnte sie die beiden gut sehen und sich auch per Zeichen mit ihnen verständigen.

      Als nach dem Start, bei dem sich Emilie mit beiden Händen am Sitz festhielt und unwillkürlich versuchte, gegen den unendlich starken Schub der Triebwerke anzukämpfen, mit einem Mal das Vibrieren des Flugkörpers in einen ruhigen, fast befreienden Zustand wechselte, da wagte Emilie einen Blick nach draußen und erfreute sich daran, wie sich das Land und die Häuser von Frankfurt kontinuierlich verkleinerten, und als die Boeing ihre Reisehöhe erreicht hatte, fühlte sich Emilie froh und zufrieden darüber, dass sie den Schritt gewagt hatte.

      „Wie wird es wohl sein, in dem fernen Italien, in der Stadt Pescara? Dort, wo die Eltern von Rafael leben. Dort, wo die meiste Zeit die Sonne scheinen soll.“

      Emilie war gespannt, was auf sie zukommen würde. Sie genoss den Flug im strahlenden Sonnenschein. Nie hätte sie geglaubt, dass ihr der von ihr anfangs so verschmähte Flug derart viel Freude bereiten würde. Emilie drehte sich um und sah zu Juli und Rafael hinüber. Juli lächelte und winkte kurz mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht. Als Emilie ihr signalisierte, dass alles in Ordnung sei, lehnte sich Juli zufrieden an die Schulter von Rafael, der sich gelassen die Schönheiten der Erde von oben her betrachtete.

      ***

      Seit ihr Mann Otto von ihr gegangen war, wiederholte sich jeden Morgen der gleiche Rhythmus in der Wohnung von Emilie. Vor dem Frühstück blätterte sie in der Frankfurter Rundschau, die jeden Morgen pünktlich in ihrem Briefkasten lag. Anschließend freute sie sich schon auf Emma und Fabian, die, bevor sie von ihrer Mutter zur Bushaltestelle gebracht wurden, noch kurz bei ihr vorbeisahen.

      Emilie schaute auf die Uhr. Kurz nach halb acht. Sie lächelte. Gleich würde es so weit sein. Sie hatte kaum den Gedanken zu Ende gebracht, als sie Gepolter im Treppenhaus vernahm. Die schnellen, teils gesprungenen Schritte der Kinder auf der Treppe machten Emilie jeden Morgen Angst. Angst, dass einer ihrer Lieblinge stürzen und sich verletzen könnte.

      „Omi, Omi!“

      Da standen sie nun, die beiden Urenkel, mit erhitzten Köpfen, ihre Schulranzen auf dem Rücken und wussten genau, was nun kam. Denn jeden Morgen gab Oma Emilie den beiden eine Kleinigkeit mit auf den Weg.

      „Bitte, keine Süßigkeiten“, bat Caro immer wieder, um irgendwann einmal mit Kinderentzug am frühen Morgen zu drohen. Seither hatte Emilie immer leichte und mit Caro abgesprochene Milchschnitten im Haus und die Kinder nahmen diese ebenso gerne an.

      „Tschüss, Omi, wir müssen, sonst kommen wir zu spät“, rief Fabian noch im Weglaufen und von Emma sah Emilie nur noch ein winkendes Händchen und den Schulranzen. Der hin und her schlingerte.

      „Diese Kinder!“, lachte sie verhalten. „Ich werde mich doch noch etwas hinlegen“, nahm sie sich vor und streckte auch sogleich ihren schlanken Körper längs auf der Küchenbank aus, auf der immer eine warme Decke und mehrere Kissen lagen, für alle Fälle. In den Gedanken an Emma und Fabian schloss Emilie die Augen und langsam verschwanden die Gedanken an ihre beiden Urenkel und Emilie fühlte sich nach und nach in die Vergangenheit versetzt. Erinnerungen an längst verflossene, schwere, aber auch schöne Zeiten, tauchen vor ihr auf und mit einem glücklichen Lächeln um ihre Mundwinkel tauchte sie ein in die Vergangenheit, die sich ihr mehr und mehr öffnete.

      5. Kapitel

       Otto: 1945

      Mit einem zaghaften Ruck riss Emilie mit den Spitzen von Daumen und Zeigefinger das Kalenderblatt mit dem Datum von gestern ab. Montag, der 26. März 1945, stand in gotischen Lettern darauf geschrieben. Emilie seufzte und drehte das Kalenderblatt um, denn auf allen Rückseiten des Abrisskalenders war ein Spruch zu lesen und Emilie vergaß nie, sich an einem neuen Morgen den Inhalt des kleinen Verses zu Gemüte zu führen.

      Die Sprüche stammten aus den Federn von teils bekannten, ja, auch unbekannten Literaten und alle hatten nur eines zum Ziel: Sie wollten Kraft geben für den neuen Tag. Hoffnung und Ablenkung in einer Zeit, wo vor lauter Bombenhagel, sterbenden Soldaten, schreienden verletzten Kindern und Müttern einfach kein Platz mehr war für die schönen Dinge des Lebens, wo nur noch Angst und Panik herrschten und wo man nie wusste, was die kommende Stunde bringen würde.

      Emilie hatte den Zettel umgedreht, doch ihr Blick war starr auf das Blättchen Papier gerichtet, ohne dass ihre Augen den Buchstaben folgten, die Wörter zum Leben erweckten, zu einem sinnvollen Gefüge formten.

      Emilies Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, die jedoch, ohne ihren kleinen See zu verlassen, in den aus Kummer und Gram eingefallenen Augenhöhlen verharrten. Emilie griff in den linken Ärmel ihrer Bluse und zupfte ein Taschentuch hervor, eines mit Spitzen, das ihre Mutter noch in Handarbeit gehäkelt und ihr, Emilie, zusammen mit einem Stück wohlriechender Seife zu ihrem 14. Geburtstag geschenkt hatte. Das war vor fast genau drei Jahren gewesen.

      Eine Träne hatte nun den See in den Augen Emilies zum Überlaufen gebracht und rann langsam über ihre linke Wange. Es ist noch kein halbes Jahr her, da ihre Eltern und ihre Schwester in einem Bombenhagel in der Bockenheimer Landstraße ums Leben kamen. Emilie zerriss es das Herz, als sie daran dachte.

      Ihre Lieben, die niemandem etwas zuleide tun konnten, hatte es getroffen. Sie hatten sich aufgemacht, um bei Bekannten selbst gefertigte Handarbeiten gegen etwas Essbares einzutauschen. Als der Bombenalarm kam, war es für sie nicht mehr möglich, den Bunker aufzusuchen, deshalb suchten sie im Keller des Hauses Schutz, der dem Angriff jedoch nicht standhielt.

      Auch Marie, ihre Schwester, die eigentlich Katharina-Maria hieß, aber diesen Namen im Kreise ihrer Lieben so gut wie nie zu hören bekam, schien es getroffen zu haben. Seit diesem Bombenangriff hatte sie nichts mehr von ihr gehört. Marie war so zerbrechlich gewesen und sie war nicht nur die Schwester, sie war die beste Freundin von Emilie, ihre engste Verbündete, der sie ihren Seelenkummer, besonders, wenn es um die Liebe ging, anvertrauen konnte.

      Auch über Otto hatte Emilie mit Marie gesprochen. Otto war ein junger Mann aus der weiteren Nachbarschaft, den sie vorher in ihrem ganzen Leben nur wenige Male gesehen hatte. Er war Emilie über den Weg gelaufen, als sie bei einem Fliegerangriff gemeinsam dem Glauburgbunker am Glauburgplatz zustrebten.

      „Komm, Kleine, gib mir deine Hand“, hatte Otto gerufen, als er merkte, dass sie langsamer wurde als er. Emilie hatte fast keine Luft mehr bekommen, die Lungen schienen ihr aus dem Hals zu springen. „Kleine“, hatte