Ein ganzes Leben Ewigkeit. Hans Muth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Muth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748590750
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der wenigen, die das System durchschaut hatten. „Uns alten Menschen das Geld aus der Tasche ziehen, uns weismachen, dass wir heute etwas erworben haben, das es nicht im freien Handel gibt, weil die Preise dort angeblich erheblich höher ausfielen, das macht man nicht mit mir!“, hatte Emilie immer gedacht, und wenn sie dann am Abend zurück in ihrer gewohnten Umgebung war, platzierte sie verschmitzt die kostenlos erhaltenen Werbegeschenke zwischen Ziertellern und Fotografien ihrer Lieben und freute sich schon auf die nächste gemütliche Reise, bei der sie auch dann ihren Vorsatz einhalten würde, nichts von diesem unsinnigen Kram zu kaufen.

      Emilie sah auf ihre schmale goldene Armbanduhr, ein Geschenk ihres verstorbenen Mannes. Fast eine halbe Stunde hatte sie geschlafen. Ihre Gedanken waren nun wieder klar. Vor rund zwei Stunden hatten Rafael, Juliane und sie den Flieger in Pescara zum Rückflug in die Heimat bestiegen. Der Kurzurlaub in dem fremden Land hatte ihr gutgetan.

      Ihre Tochter und Rafael hatten sie zu dieser Reise eingeladen und nach langem anfänglichem Zögern hatte sie zugesagt. So bot sich ihr endlich die Möglichkeit, die Eltern von Rafael einmal kennen zu lernen, denn Rafael war Italiener und hatte einige Jahre in Deutschland als Gastarbeiter gearbeitet.

      So hatte er Juli, wie Rafael seine Frau zärtlich nannte, kennengelernt, die beiden verliebten sich ineinander und schon nach einem halben Jahr wurde Hochzeit gefeiert. Ihr selbst war dies eigentlich alles viel zu schnell gegangen.

      „Wo die Liebe hinfällt“, dachte Emilie. Aber Rafael ist ein guter Mensch, sorgt für seine Familie, so wie es ein Italiener eben tut, mit seiner ganzen Kraft, denn einem Italiener, dass wusste Emilie, geht die Familie über alles.

      Emilie schaute sich suchend um. Ein mildes Lächeln floss um ihre Mundwinkel. Schräg hinter ihr auf der anderen Gangseite saßen die beiden, Juli hatte ihren Kopf auf die Schulter ihres Mannes gebettet und schlief tief und fest. Die schulterlangen, mittelblonden Haare waren leicht zerzaust. Eine Strähne berührte den rechten Nasenflügel von Rafael, der diesen ab und zu mit einem leichten Luftzug wegblies. Rafael ließ es geschehen. Dann schaute er interessiert aus dem Fenster und schien sich an dem Spiel der Sonne an den silbern glänzenden Flugzeugteilen zu erfreuen.

      Rafael Orlando war 58 Jahre alt, drei Jahre älter als Juli und ging in der Innenstadt von Frankfurt bei einem bekannten Versicherungsunternehmen als freier Versicherungsagent einer geregelten Arbeit nach, und das schon seit über 25 Jahren.

      Die italienische Herkunft sah man Rafael gleich an. Sein schwarzes, nach hinten gebürstetes Haar, das, ebenso wie seine Gesichtsprägungen, den Südländer vermuten ließ, und seine vielsagenden Armbewegungen, die beim Sprechen seine Ausdrucksweise begleiteten, verrieten offenkundig seine Herkunft. Rafaels Oberlippenbart war akkurat zurechtgestutzt, die runde, mittelgroße randlose Brille gab Rafael etwas Seriöses und erinnerte Juli, die ihn gerade jetzt von der Seite betrachtete, irgendwie an ihren Vater Otto.

      Juli reckte sich und schaute auf ihre Armbanduhr. Noch einige wenige Minuten, dann würde der Flieger zur Landung ansetzen. Sie entspannte sich und ließ sich wieder tiefer in den Sitz gleiten, wobei sie ihren Kopf wieder gegen die Schulter von Rafael lehnte.

      Auch Emilie machte es sich noch einmal bequem. Von der Seite her betrachtete sie ihren Nebenmann, einen Mittvierziger, der geradeaus vor sich schaute und keinerlei Regung zeigte. Die Glatze des kräftigen Mannes glänzte in der einfallenden Sonne und Emilie wandte ihren Blick wieder nach draußen, dem blauen Himmel zu.

      „Es ist schön hier“, dachte sie. „Ein Stückchen näher an Gott. Man muss sich langsam daran gewöhnen, ihm immer näher zu kommen.“

      Emilie schaute noch einmal zurück zu Juli und Rafael. Juli war inzwischen aufgewacht und lächelte ihr zu.

      „Sie wird mir immer ähnlicher“, stellte Emilie fest. „Ja, sie gleicht mir, in den Gesichtszügen, aber auch in ihrem Wesen. Sie hat die gleiche Freude am Leben wie ich und auch das Quäntchen Besorgnis, wie es in meinem Inneren ein Zuhause hat, ist ihr eigen.

      „Ich bin so froh, dass sie sich durchgerungen hat, mit uns zu fliegen. Wer weiß, ob und wann sie dieses Erlebnis noch einmal haben wird“, freute sich Juli innerlich und dachte an die Tage in Pescara. Da war Emilie wie ausgewechselt gewesen, hatte sich in der Sonne geaalt, war mit Rafael in der Gegend umhergefahren und hatte sich an den Schönheiten des Landes erfreut. Sogar einige Brocken Italienisch hatte sie vor der Reise einstudiert und ein kleines Lexikon führte sie in Pescara immer mit sich.

      Juli musste innerlich lachen, als sie daran dachte, wie die Herren im fortgeschrittenen Alter auf Emilie abgefahren waren, wie sie mit ihrem Wesen und ihrem Humor alle in ihren Bann zog. Dabei schien es gar nicht so wichtig, dass man sich mit Worten verstand. Der gewisse Funke war es, der übersprang und die Situation erhellte.

      Juli sah, wie sich die Tragfläche, die sie von ihrem Sitz gut einsehen konnte, in ihre Einzelteile zerlegte. Wäre es heute das erste Mal, dass sie ein Flugzeug bestieg, sie würde in Hysterie verfallen. Doch inzwischen wusste sie, dass es die Landeklappen waren, die der Pilot für die Landung vorbereitend einstellen musste.

      „Es ist gut, wieder zu Hause zu sein, dachte Juli und sah zu Rafael auf, der gelangweilt das Innere des Flugzeugs betrachtete. Für ihn war es nur ein Flug, nichts Besonderes, ein Flug eben, den er gelassen über sich ergehen ließ. Viel wichtiger für ihn war es, dass er wieder einmal seine Eltern in Pescara hatte besuchen können.

      „Ich werde sie in Zukunft jedes Jahr sehen, wer weiß, wie lange das noch möglich sein wird.“

      Er hatte auch schon mit Juli darüber gesprochen. Einmal im Jahr wollte er sie in Zukunft besuchen, vielleicht alleine, vielleicht mit Juli zusammen. Schließlich waren Paolo und Sophia weit über achtzig.

      „Aber jetzt erst einmal nach Hause. Ein erfrischendes Bad, ein kühles Bier und die Beine hochgelegt. So werde ich den Tag ausklingen lassen“, nahm sich Rafael vor.

      Ein Ruck ging durch die Maschine und Rafael nahm gelassen zur Kenntnis, dass man gerade wieder einmal glücklich in Frankfurt gelandet war.

      3. Kapitel

       Caroline

      „Auf, Kinder, wir müssen uns fertigmachen. Das Flugzeug landet bald! Ihr wollt doch nicht, dass Opa Rafael und Oma Juli auf uns warten müssen.“

      Caroline Breuer hatte alle Hände voll damit zu tun, ihre beiden Kinder zu bändigen. Die Begeisterung der beiden Kleinen war groß, denn nach einer Woche, in denen sie ihre Großeltern nicht gesehen hatten, steigerte sich die Wiedersehensfreude.

      „Und Omi!“

      Fast vorwurfsvoll kam der Einwurf von Emma, die gerade dabei war, mit ihren kleinen Händen einen ihrer Schuhe zuzubinden. Vor ein paar Tagen war es ihr zum ersten Mal gelungen, eine Schleife zu binden. Emilie hatte es der Vierjährigen beigebracht, hatte ihr geduldig und lange gezeigt, wie man so etwas macht.

      Für Emma, aber auch für Fabian, war Urgroßmutter Emilie ganz einfach nur ihre „Omi“. So hatten beide in ihrer kindlichen Art und Weise den Weg gefunden, ihre Zuneigung zu Emilie und ihren Großeltern Juli und Rafael zum Ausdruck zu bringen, wobei „Omi“ einen noch tieferen Platz in ihren Herzen eingenommen hatte.

      „Ja, und Omi, natürlich…habe ich doch nicht vergessen“, antwortete Caroline schnell. „Aber wir wollen Omi und die anderen doch nicht auf dem großen Flugplatzgelände auf uns warten lassen. Sie werden bestimmt sehr müde sein von dem Flug“, sagte Caroline und half Fabian in seine warme Steppjacke, denn, obwohl der März nahte, waren die Temperaturen noch nicht allzu weit über dem Nullpunkt angelangt.

      „So mein Großer, schauen wir mal, wie weit Emma ist.“

      Caro nannte ihn den „Großen“, denn Fabian hatte gerade seinen zehnten Geburtstag mit Kindern aus der Nachbarschaft und natürlich seiner Mutter, Oma Juli, Opa Rafael und, ganz wichtig, Omi, gefeiert. Auch sein Vater Erwin hatte kurz hereingeschaut und ihm ein Geschenk gebracht.

      „Wir fahren erst nach deinem Geburtstag nach Italien“, hatte Emilie den beiden versprochen. „Ich werde