Ein ganzes Leben Ewigkeit. Hans Muth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Muth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748590750
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vielsagend und strich Emilie über das Haar. „Wie alt sind Sie?“, fragte sie mütterlich.

      „Sechszehn“, flüsterte Emilie. Ich bin sechzehn. Und Marie … sie ist erst vierzehn. Ich bin doch für sie verantwortlich.“

      Die Krankenschwester atmete tief durch. Dieses unendliche Leid, das uns allen aufgebürdet wird, dachte sie. Laut fragte sie:

      „Was werden Sie jetzt tun?“

      „Ich weiß es nicht. Ich möchte am liebsten auch sterben“, schluchzte Emilie. „Ich habe keinen Menschen mehr auf dieser Welt.“

      2. Kapitel

       Emilie (Gegenwart)

      Unter ihnen präsentierte sich großflächig die Rhein-Main-Metropole Frankfurt, eingetaucht in ein bläulich schimmerndes Licht, hervorgerufen durch die intensive blau bis weiß abgestufte Farbgebung des wolkenfreien Himmels. Die Augustsonne blendete die Insassen durch die bullaugenähnlichen Fenster der Boeing 737 und an der linken Tragfläche, deren Ende den glühenden Feuerball zu berühren schien, spaltete sich das Sonnenlicht und bildete einen goldenen Schleier. Wäre da nicht das gleichmäßige Dröhnen der Turbinen in den Ohren der Passagiere gewesen, ein Freiheitsgefühl, wie es Ikarus erlebt haben musste, hätte zweifelsohne von einigen der Fluggäste Besitz ergriffen.

      Am Horizont verlief sich die Dichte der Stadt, deren Hochhäuser im gleißenden Sonnenlicht die Hitze aufzusaugen schienen, und man konnte bereits unschwer die Landebahn des Flughafens ausmachen, die sich jedoch gerade in diesem Moment nach Süden wegzudrehen schien, denn der Pilot lenkte den Flugkörper zur Seite, offensichtlich in eine Warteschleife.

      Für ein paar Momente bot sich dem Betrachter aus der Schräglage der Boeing heraus eine Panoramaansicht der Stadt und silbern glänzend präsentierte sich dazu der Main, mit seinen schlangenförmigen Windungen die Stadt teilend.

      Emilie Bruckner hatte ihr Schläfchen beendet und rieb sich die Augen. Dann fuhr sie sich mit der Hand durch ihr weißes gewelltes Haar, um gleich wieder zurückzuzucken. Sie öffnete ihre kleine Handtasche, die sie neben sich auf dem Sitz abgestellt hatte und entnahm ihr einen kleinen Frisierspiegel, einen solchen ohne Stiel, der sich gut in einer kleinen Seitenablage der Tasche unterbringen ließ und der immer dann zur Hand war, wenn sie ihn brauchte.

      Emilie war eitel. Sie war schon immer eitel gewesen in ihrem Leben, eitel wie alle Frauen. Wenn sie ihre Wohnung verließ, führte sie immer ihre Handtasche mit sich. Sie machte da keine Ausnahme zu all den anderen Frauen und so war ihre Eitelkeit auch auf keinerlei Grenzen angewiesen.

      Sie schaute in das kleine Viereck, das kaum größer war als eine Zigarettenschachtel, ordnete ihr Haar und betrachtete ihre Augenbrauen, ihre Wimpern.

      Emilie musste einmal eine sehr schöne Frau gewesen sein, das konnte man heute noch mit wenig Fantasie erahnen. Sie war nicht sehr groß, hatte aber noch immer eine schlanke Figur und ihre leicht hervorstehenden Backenknochen unter den braunen, listig anmutenden Augen, gaben ihr auch heute noch ein gewisses Etwas.

      Emilie öffnete leicht den Mund und betrachtete im Spiegel ihre strahlend weißen Zähne, eine Prothese zwar, aber in einer Verarbeitung, die es ihr ermöglichte, frei zu reden und zu lachen. Und wenn sie letzteres tat, zeigten sich zwei tiefe Grübchen links und rechts in ihren Mundwinkeln, die in der Vergangenheit immer schon ein Anziehungspunkt für das männliche Geschlecht gewesen waren. Wären da nicht die Altersflecke auf der Haut der Hände zu sehen gewesen und die hervorstehenden Venen, man hätte ihr durchaus ein jüngeres Lebensalter abgenommen.

      Zum ersten Mal in ihrem langen Leben, immerhin zählte sie schon neunzig Lenze, hatte sie einen solchen Riesenvogel bestiegen. Nicht einmal in all den vergangenen Jahren war das Bedürfnis dazu in ihr aufgestiegen. Stets hatte sie Bewunderung für alle, die den Mut hatten, in einen dieser stählernen Kolosse einzusteigen und durch die halbe Welt zu reisen. Doch sie selbst hatte da schon lieber die Fortbewegung auf der Erde vorgezogen.

      „Emilie, du kannst dir nicht vorstellen, was du alles verpasst.“ Helma Brunner, eine ihrer besten Freundinnen und das schon seit vielen Jahren, hatte sie eines Tages ins Gebet genommen.

      „Deine Kinder, deine Enkel, ja deine gesamte Familie, alle fliegen in der Welt umher und stell dir vor: Sie sind immer wieder zurückgekommen. Was hast du denn schon außer Frankfurt gesehen? Mach dir noch ein paar schöne Jahre, verreise in ferne Länder, jetzt, ehe es zu spät ist!“

      Emilie hatte lange darüber nachgedacht. „Was habe ich zu verlieren?“, fragte sie sich. Andere kommen auch immer wieder zurück, genau wie Helma es mir immer vorhält. Ich werde es tun! Ich werde bei nächster Gelegenheit mit Juliane und Rafi nach Italien fliegen. Ich werde Rafis Eltern kennenlernen und sein Land mit der nicht enden wollenden Sonne, den süßen Früchten, die wir hier nur in den Supermärkten vorfinden.“

      Emilie nannte ihren Schwiegersohn nur Rafi. Er war ein guter Junge, ein guter Ehemann und ein guter Vater. Er konnte nichts dafür, ebenso wenig wie Juliane, dass die Ehe ihrer Tochter Caroline in die Brüche ging. Es war halt der Falsche gewesen. Als Erwin sein wahres Wesen gezeigt hatte, war es bereits zu spät. Andere Frauen, Lügen und Ausreden, da hatte Caroline ihn einfach rausgeworfen. Nach der Scheidung hatte sie nach einem langen Kampf das Sorgerecht für die beiden Kinder bekommen.

      Emma und Fabian! Emilie lächelte zufrieden bei dem Gedanken an ihre beiden Enkel. In einer halben Stunde würde sie die beiden in die Arme schließen. Sie hörte schon die Rufe aus der Ferne: „Omi, Omi!“

      Fabian war mit 10 Jahren der „Große“. Emma war erst vier.

      „Du musst immer auf deine Schwester aufpassen“, hatte Emilie ihrem Fabian ins Ohr geflüstert, wenn dieser seinen Vater vermisste und ihm die Tränen in die Augen stiegen. „Du bist jetzt der Mann im Haus! Dein Vater wird stolz auf dich sein!“

      ***

      Ja, noch eine halbe Stunde. Dann wird dieses Flugzeug gelandet sein, zurück von einer Urlaubsreise durch die Luft in schwindelnder Höhe.

      „Und ich war mittendrin!“ Emilie konnte es kaum glauben. Dass sie über sich hinausgewachsen war, dass sie einfach so, ohne irgendein Flugseminar, ohne einen Probeflug, einfach so bis nach Italien geflogen war, erfüllte sie mit Stolz.

      „Es wird nicht der letzte Flug gewesen sein“, nahm sie sich vor.

      Nun ja, eine Stubenhockerin war Emilie in ihrem Leben dennoch nicht gewesen. Früher, in ihrer Jugend, waren es Busreisen gewesen und gemeinsam mit einigen ihrer Freundinnen ging es in den Bergischen Wald, die Eifel, den Hunsrück. Die weiteste Reise, an die sich Emilie erinnern kann, ging an die Nordsee, nach Ostfriesland, genauer gesagt, nach Esens. Emilie lächelte in ihren Erinnerungen. Ja, die Nordsee, Dorthin hatte sie ihre erste Reise mit Otto gemacht, ihrem späteren Ehemann. Otto Bruckner. Emilie seufzte und ihre Augen wurden feucht.

      In ihrer Erinnerung sah sie Otto ganz nah vor sich. Obwohl sein Haarschmuck sich mit den Jahren total verflüchtigt hatte, war ihm seine Ausstrahlung, die sie schon beim ersten Zusammentreffen mit ihm so geschätzt hatte, erhalten geblieben. Immer braun gebrannt, auch wenn da im Winter das Solarium nachhalf, bevorzugte Otto saloppe Kleidung. Emilie sah ihn vor sich in seiner hellbeigen Hose, dem dunkelbeigen Sakko und dem krawattenlosen Hemd darunter, das seine grauen Brusthaare nicht völlig verdeckte.

      Vor elf Jahren bereits hatte ihr Otto sie verlassen. 76 Jahre war er alt geworden, Lymphknotenkrebs, die Metastasen hatten sich bei Erkennen der Krankheit schon zu weit im Körper ausgebreitet.

      Später, als sie den Zenit des Lebens bereits weit überschritten hatte, ergab es sich, dass Emilie mit den gleichaltrigen Damen und Herren ihrer Nachbarschaft, und das nicht wenige Male, an so genannten Kaffeefahrten teilnahm. In Reisebussen ging es dann über Hunderte von Kilometern zu Verkaufsveranstaltungen, denen Emilie zwar beiwohnte, aber gekauft hatten eigentlich immer nur die anderen.

      „Das ist alles qualitätslose Ware“, hatte sie den anderen immer zugeflüstert, aber niemand hatte auf sie gehört. Auf den Rückfahrten platzten die Busse aus