Dream of a Stretcher. Enrico Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Enrico Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738087956
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in alle Winkel des Raumes. Das Original, keine kommerzielle Coverversion – Eddie legte großen Wert darauf. Noch viel wichtiger war jedoch seine Gewissheit, dass es gleich zwischen ihm und der Person im Nebenraum ziemlich laut werden würde. Die Anlage musste diesen Krach übertönen, damit sie nichts davon mitbekam. So handhabten sie es nun schon seit Monaten. Auch stellten sich beide Seiten nie die Frage, ob sie nicht inzwischen längst beim Klang der Stereoanlage Bescheid wusste.

      Behind Blue Eyes war noch nicht einmal zur Hälfte durchgelaufen, da verstummte der Song auch schon wieder. Abgeschaltet wurde die Anlage mittels Fernbedienung, die linker Hand neben der Tür auf einem weiß-lackierten Sideboard lag. Offenbar würden die beiden jetzt doch nicht streiten. Es hatte den Anschein, als bestünde für eine der Parteien keine Notwendigkeit dafür, da längst alles gesagt war. Eddie wandte den Kopf in Richtung der Wohnzimmertür. Dort blickte er in das hübsche Gesicht einer jungen Frau. Ihr Name war Jeanine. Sie studierte nebenbei noch und war die wohl ehrgeizigste Jung-Redakteurin der Hale&Harrow, einer renommierten Tageszeitung. Mit ihr hatte Eddie die letzten sieben Jahre geteilt, doch wie es aussah, würden sie dieser verflixten Zahl nun zum Opfer fallen.

      »Ich habe jetzt alles«, sagte Jeanine bestimmend und fuhr sich gleichzeitig mit der rechten Hand durch ihr kurz geschnittenes, rotes Haar. Nach außen versuchte sie, ihre innere Anspannung zu verdrängen, doch es gelang ihr nur mäßig. Das hier fiel auch ihr nicht leicht. Für sie wäre es einfacher, wenn Eddie an jenem Sonntag wie versprochen nicht vor Ort gewesen wäre. Er habe zu arbeiten, hatte er ihr prophezeit, um dann am ausgemachten Tag doch vor ihr zu stehen. Sei’s drum, Jeanine würde sich nicht beirren lassen. Dieses eine Mal noch, dann müsste sie nicht mehr hierher kommen.

      Vor nicht allzu langer Zeit nannte Jeanine diese Maisonette, welche die beiden obersten Etagen eines fünfstöckigen Hauses bildete, ihr eigenes Heim. Doch vor ein paar Tagen zog sie überraschend aus und nahm Töchterchen Lillie mit sich, die gerade vergnügt in einem der Nebenzimmer mit ihren Puppen spielte. Jetzt war Jeanine dabei, die letzten Sachen aus ihrem alten Zuhause zu holen. Danach würde sie ihrer Vergangenheit »Lebewohl« sagen, sofern sie könnte.

      Eddie hatte die Entscheidung seiner Partnerin überrascht, doch zutiefst erschüttert zeigte er sich nach außen hin nicht – zunächst. Eddie war erst vierundzwanzig. Jeanine, die drei Jahre jünger war, bekam Lillie mit siebzehn. Als sie vor dem Gesetz die notwendige Legitimation erhielten, heirateten die beiden. Dem überaus jungen Paar fehlte es nie an etwas, höchstens an Erfahrung. Eddie entsprang einer wohlhabenden Familie erfolgreicher Unternehmer. Früher oder später würde er die Firma seines Vaters übernehmen. Darauf wurde er getrimmt.

      »Wohin werdet ihr jetzt gehen?«, fragte Eddie an Jeanine gerichtet.

      »Ich habe uns etwas in der 13th organisiert. Eine Freundin, die dort wohnt, ist für mehrere Monate verreist. Die Wohnung steht also leer.«

      »13th? Mit einem Anruf kann ich was Besseres klarmachen.« Mit Sicherheit könnte er das – Eddie sollte einmal die halbe Straße erben. Dazu besaß seine Familie weitere Immobilien ringsum und im Zentrum der Stadt.

      »Wir kommen allein klar«, entfuhr es Jeanine. Auf Eddies Almosen konnte sie verzichten. Als er sich ihr näherte, verschoben sich ihre weichen Züge zu einer trotzigen Mine. »Ich werde jetzt Lillie holen«, fuhr sie fort und nahm ihren Blick von seinem. Für Eddie bot sich keine Gelegenheit für einen Kommentar, denn Jeanine drehte ihm postwendend den Rücken zu und stampfte in Richtung des Kinderzimmers.

      »Komm Schatz! Mami hat jetzt alles, was wir brauchen!«, rief sie in den Raum hinein. Eddie stand mit etwas Abstand im Flur, als er sah, wie seine Tochter mit winzig-kleinen Schritten aus ihrem Zimmer getapst kam. Als sie sich nach rechts drehte, blickte Eddie in die großen, haselnussbraunen Knopfaugen. Er würde diese Augen wiedersehen, doch es würde eine Weile dauern. Das kleine Kind hatte alle Hände voll zu tun, seine beiden ihm liebsten Spielzeuge mit sich herumzutragen. In der einen Hand hielt sie eine ihrer Puppen, die größte und schönste, die sie selbst auf den Namen Mimmy taufte. In der anderen Hand trug sie eine aus Fichtenholz und Palisander gefertigte Ukulele. Dieses Instrument war so etwas wie Eddies vorläufiges Geburtstagsgeschenk an sie, denn Lillie würde bald vier Jahre alt werden. Edward »Eddie« Jefferson war in seinem Leben nie besonders kreativ, wenn es um das Schenken ging. Doch in diesem Jahr wähnte er sich in dem Glauben, bei seiner Tochter den richtigen Riecher gehabt zu haben. Er war so gespannt auf Lillies Reaktion, dass er ihren Geburtstag nicht abwarten konnte und ihr die Ukulele deshalb sofort gab. Entgegen seiner Erwartungen war Jeanine damit einverstanden und ließ ihn dieses Vorhaben ohne zu lamentieren umsetzen. Während Eddie so im Flur stand, dämmerte es ihm. Jeanine musste zu diesem Zeitpunkt schon gewusst haben, dass er sein Kind an seinem Geburtstag nicht sehen würde. Dass sie ihn gewähren ließ, weil sie so ein Gefühl der Vorfreude bei ihrem Partner bis dato nicht kannte, kam ihm nicht in den Sinn.

      »Sag deinem Daddy auf Wiedersehen!«, wies Jeanine ihre Tochter an und deutete mit dem Finger in Eddies Richtung. Die Kleine ließ sich nicht zweimal bitten, übergab der Mutter kurzerhand Ukulele und Püppchen Mimmy und rannte auf ihren Vater zu, um diesen dann herzlichst zu umarmen.

      »Auf Widersehen!«, sagte Lillie zu ihrem Vater aufschauend und löste den Griff um ihn. Alles, was Eddie ihr entgegnete, war ein stumpfes Kopfnicken, ehe er die Lippen zu einem gequälten Lächeln verzog – zu mehr reichte es nicht. Seine Kehle war auf einmal wie zugeschnürt.

      »Ich bring euch noch raus«, stieß er aus. Dann setzten sich die drei in Bewegung. Jeanine warf den Mantel über und zog sich die Stiefel an, während Eddie mit Jacke, Schal, Mütze und Schuhen dafür sorgte, dass Lillie für Regen und Kälte gerüstet war. Keiner sagte etwas. Dass es so merkwürdig werden würde, hatte nicht einmal Eddie erwartet. In seinem Kopf spukte allen Ernstes der Wunsch, er hätte an diesem verregneten Sonntag wirklich zu arbeiten gehabt. Dann wäre ihm zumindest dieser kalte Abschied erspart geblieben. Auch Jeanine tat bis zum Schluss nichts, um den Moment irgendwie zu erwärmen. Keine allerletzte Umarmung, geschweige denn ein letzter Kuss. Bewaffnet mit ein paar großen blauen Säcken, in denen ihre sieben Sachen verstaut waren, folgte sie ihrer Tochter ins Erdgeschoss hinab. Sie wandte sich nicht um. Nur Lillie blieb einen Moment stehen und hob die Hand für einen letzten Wink in Eddies Richtung, der allein vor dem Eingang seiner Maisonette-Wohnung zurückblieb.

      Während er die Wohnungstür hinter sich verschloss, lauschte er noch einmal dem Klang der hölzernen Treppenstufen. Als er verstummte, wusste er, dass es mit seinem alten Leben wohl endgültig vorbei war.

      Wieder im Wohnzimmer, schmetterte erneut Behind Blue Eyes aus der Stereoanlage – Eddie drehte voll auf. Unter brachialem Lärm ging er rüber zur Bar, dort waren Zigarren und ein achtzehn Jahre alter Single-Malt verstaut. Mit einem Tumbler voll Whiskey und der glimmenden Kubanischen stand er jetzt ganz allein im Raum. Hmm, ich dachte, es würde sich besser anfühlen, jetzt auch im Wohnzimmer rauchen zu dürfen …

      2

      »Möchtest du einen Tanz?«

      »Natalie, richtig? Bist du nicht sein Mädchen?«, fragte Eddie an die Frau gerichtet, die soeben auf seinem Schoss platznahm. Sein Blick driftete dann in Richtung eines Arbeitskollegen. Der Mann, der in den mittleren Dreißigern war und auf den Namen Berry hörte, hing mehr in seinem Sessel, als dass er saß. Die Dame schaute ebenfalls über die Schulter nach Berry, der alle Mühe hatte, sein Whiskeyglas gerade zu halten. »Oh, ich bin sein Mädchen«, begann sie mit einem osteuropäischen Akzent, ehe sie sich wieder Eddie zuwandte, um ihm tief in seine blau-grünen Augen zu starren. »Und für die gleiche Summe, die er mir zahlt, bin ich auch deins.«

      Entrüstet stieß Eddie den Atem aus und nahm seinen Blick von ihr.

      »Ich sollte nicht hier sein. Ich … ich bin verheiratet«, stammelte er. Gerade dachte er nur daran, wie sehr er Berry hasste. Ihm hatte er diesen Ausflug zu verdanken, sein erster dieser Art.

      »Nun, viele verheiratete Männer kommen hierher.« Zärtlich streichelte Natalie mit ihrer linken Hand das Gesicht von Eddie, der sich ihr wie ferngesteuert wieder zudrehte. »Meist kommen sie, weil sie hier etwas finden wollen, was ihre