Kind, der Artemis opfert, so wird die Göttin versöhnt sein, Fahrwind wird kommen, und der
Zerstörung Trojas wird kein übernatürliches Hindernis mehr im Wege stehen.«
Diese Worte des Sehers raubten dem Feldherrn der Griechen allen Mut. Sogleich beschied er den
Herold der versammelten Griechen, Talthybios aus Sparta, zu sich und ließ denselben mit hellem
Heroldsruf vor allen Völkern verkündigen, daß Agamemnon den Oberbefehl über das griechische
Heer niedergelegt habe, weil er keinen Kindesmord auf sein Gewissen laden wolle. Aber unter den
versammelten Griechen drohte auf die Verkündigung dieses Entschlusses eine wilde Empörung
auszubrechen. Menelaos begab sich mit dieser Schreckensnachricht zu seinem Bruder in das
Feldherrnzelt, stellte ihm die Folgen seiner Entschließung, die Schmach, die ihn, den Menelaos,
treffen würde, wenn sein geraubtes Weib Helena in Feindeshänden bleiben sollte, vor und bot so
beredt alle Gründe auf, daß endlich Agamemnon sich entschloß, den Greuel geschehen zu lassen. Er
sandte an seine Gemahlin Klytämnestra nach Mykene eine briefliche Botschaft, welche ihr befahl, die
Tochter Iphigenia zum Heere nach Aulis zu senden, und bediente sich, um diesem Gebote Gehorsam
zu verschaffen, des in der Not erdichteten Vorwandes, die Tochter solle, noch bevor das Heer der
trojanischen Küste zusegle, mit dem jungen Sohne des Peleus, dem herrlichen Phthierfürsten Achill,
von dessen geheimer Vermählung mit Deïdameia niemand wußte, verlobt werden. Kaum aber war
der Bote fort, so bekam in Agamemnons Herzen das Vatergefühl wieder die Oberhand. Von Sorgen
gequält und voll Reue über den unüberlegten Entschluß, rief er noch in der Nacht einen alten
vertrauten Diener und übergab ihm einen Brief an seine Gemahlin Klytämnestra zur Bestellung; in
diesem stand geschrieben, sie sollte die Tochter nicht nach Aulis schicken, er, der Vater, habe sich
eines andern besonnen, die Vermählung müsse bis aufs nächste Frühjahr aufgeschoben werden. Der
treue Diener eilte mit dem Briefe davon, aber er erreichte sein Ziel nicht. Noch ehe er vor der
Morgendämmerung das Lager verließ, ward er von Menelaos, dem die Unschlüssigkeit des Bruders
nicht entgangen war, der ebendeswegen alle seine Schritte überwacht hatte, ergriffen, der Brief ihm
mit Gewalt entrissen und sofort von dem jüngern Atriden erbrochen. Das Blatt in der Hand, trat
Menelaos abermals in das Feldherrnzelt des Bruders. »Es gibt doch«, rief er ihm unwillig entgegen,
»nichts Ungerechteres und Ungetreueres als den Wankelmut! Erinnerst du dich denn gar nicht mehr,
Bruder, wie begierig du nach dieser Feldherrnwürde strebtest, wie du vor übel verheimlichter Lust
branntest, das Heer vor Troja zu führen? wie demütig du dich da gegen alle griechischen Fürsten
gebärdetest, wie gnädig du jedem Danaer die Rechte schütteltest? Deine Tür war stets
unverschlossen; jedem, auch dem Untersten des Volkes, schenktest du Zutritt, und alle diese
Geschmeidigkeit bezweckte nichts anderes, als dir jene Würde zu verschaffen. Aber als du nun Herr
geworden warest, da war alles bald anders; da warst du nicht mehr deiner alten Freunde Freund wie
vorher; zu Hause warst du schwer zu treffen, draußen bei dem Heere zeigtest du dich nur selten. So
sollte es ein Ehrenmann nicht machen; er sollte am meisten dann sich unveränderlich gegen seine
Freunde zeigen, wenn er ihnen am meisten nützen kann! Du hingegen, wie hast du dich betragen?
Als du mit dem Griechenheere nach Aulis gekommen warest und, vom göttlichen Geschicke
heimgesucht, vergebens auf Fahrwind hofftest und nun im Heere rings der Ruf sich hören ließ: ›Laßt
uns davonsegeln und nicht vergebens in Aulis uns abmühen!‹, wie zerstört und trostlos blickte da
dein Auge umher und wie wußtest du mitsamt deinen Schiffen keinen Rat! Damals beriefst du mich
und verlangtest nach einem Auswege, deine schöne Feldherrnwürde nicht zu verlieren. Und als
hierauf der Seher Kalchas befahl, anstatt eines Opfers der Artemis deine Tochter darzubringen, da
gelobtest du nach kurzem Zuspruche freiwillig deines Kindes Opferung und schicktest Botschaft an
dein Weib Klytämnestra, deine Tochter, wie du angabst, als Braut des Achill, herzusenden. Und jetzt,
o Schande, beugst du doch wieder aus und verfassest eine neue Schrift, durch welche du erklärst, des
Kindes Mörder nicht werden zu können? Aber freilich, tausend andern ist es schon so gegangen wie
dir. Rastlos, bis sie ans Ruder gelangt sind, treten sie später schimpflich zurück, wenn es gilt, das
Ruder mit Aufopferung zu lenken! Und doch taugt keiner zum Heeresfürsten und Staatenlenker, der
nicht Einsicht und Verstand hat und dieselben auch in den schwierigsten Lagen des Lebens nicht
verliert!«
Solche Vorwürfe aus dem Munde des Bruders waren nicht geeignet, das Herz Agamemnons zu
beruhigen. »Was schnaubst du so schrecklich«, entgegnete er ihm, »was ist dein Auge wie mit Blut
unterlaufen? Wer beleidigt dich denn? Was vermissest du denn? Deine liebenswürdige Gattin
Helena? Ich kann sie dir nicht wieder verschaffen! Warum hast du deines Eigentums nicht besser
wahrgenommen? Bin ich denn töricht, wenn ich einen Mißgriff durch Besinnung wiedergutgemacht
habe? Viel eher handelst du unvernünftig, der du aufs neue nach der Hand eines falschen Weibes
trachtest, anstatt daß du froh sein solltest, ihrer losgeworden zu sein. Nein, nimmermehr entschließe
ich mich, gegen mein eigenes Blut zu wüten. Weit besser stände dir selbst die gerechte Züchtigung
deines buhlerischen Weibes an.«
So haderten die Brüder miteinander, als ein Bote vor ihnen erschien und dem Fürsten Agamemnon
die Ankunft seiner Tochter Iphigenia meldete, der die Mutter und sein kleiner Sohn Orestes auf dem
Fuße folgten. Kaum hatte der Bote sich wieder entfernt, so überließ sich Agamemnon einer so
trostlosen und herzzerreißenden Verzweiflung, daß Menelaos selbst, der bei Ankunft der Botschaft
auf die Seite getreten war, jetzt sich dem Bruder wieder näherte und nach seiner rechten Hand griff.
Agamemnon reichte sie ihm wehmütig dar und sprach unter heißen Tränen: »Da hast du sie, Bruder;
der Sieg ist dein! Ich bin vernichtet!« Menelaos dagegen schwor ihm, von der alten Forderung
abstehen zu wollen; ja er ermahnte ihn selbst jetzt, sein Kind nicht zu töten, und erklärte einen guten
Bruder um Helenas willen nicht verderben und nicht verlieren zu wollen. »Bade doch dein Angesicht
nicht länger in Tränen«, rief er. »Gibt der Götterspruch mir Anteil an deiner Tochter, so wisse, daß ich
denselben ausschlage und meinen Teil dir abtrete! Wundre dich nicht, daß ich von der Heftigkeit
meiner natürlichen Gemütsart umgekehrt bin zur Bruderliebe; denn biedern Mannes Weise ist es,