Gemahlin des Fürsten Menelaos empfing ihn mit der Gastfreundschaft, welche sie dem Fremden,
und mit der Auszeichnung, welche sie dem Königssohne schuldig war. Da betörte seine Saitenkunst,
sein einschmeichelndes Gespräch und die heftige Glut seiner Liebe das unbewachte Herz der Königin.
Als Paris ihre Treue wanken sah, vergaß er den Auftrag seines Vaters und Volkes, und nur das
trügerische Versprechen der Liebesgöttin stand vor seiner Seele. Er versammelte seine Getreuen, die
bewaffnet mit ihm nach Sparta gekommen waren, und verführte sie durch Aussicht auf reiche Beute,
in den Frevel zu willigen, welchen er mit ihrer Hilfe auszuführen gedachte. Dann stürmte er den
Palast, bemächtigte sich der Schätze des griechischen Fürsten und entführte die schöne Helena, die
widerstrebend und doch nicht ganz wider Willen nach der Insel und seiner Flotte folgte.
Als er mit seiner reizenden Beute auf der See durch das Ägäische Meer schwamm, überfiel die
eilenden Fahrzeuge eine plötzliche Windstille: vor dem Königsschiffe, das den Räuber mit der Fürstin
trug, teilte sich die Woge und der uralte Meeresgott Nereus hub sein schilfbekränztes Haupt mit den
triefenden Haar‐ und Bartlocken aus der Flut empor und rief dem Schiffe, welches wie mit Nägeln in
das Wasser geheftet schien, das wiederum selber einem ehernen Walle glich, der sich um die Rippen
des Fahrzeugs aufgeworfen hatte, seine fluchende Wahrsagung zu: »Unglücksvögel flattern deiner
Fahrt voran, verwünschter Räuber! Die Griechen werden kommen mit Heeresmacht, verschworen,
deinen Frevelbund und das alte Reich des Priamos zu zerreißen! Wehe mir, wieviel Rosse, wieviel
Männer erblicke ich! Wie viele Leichen verursachst du dem dardanischen Volke! Schon rüstet Pallas
ihren Helm, ihren Schild und ihre Wut! Jahrelang dauert der blutige Kampf, und den Untergang
deiner Stadt hält nur der Zorn eines Helden auf. Aber wenn die Zahl der Jahre voll ist, wird
griechischer Feuerbrand die Häuser Trojas fressen!«
So prophezeite der Greis und tauchte wieder in die Flut. Mit Entsetzen hatte Paris zugehört; als aber
der Fahrwind wieder lustig blies, vergaß er bald im Arm der geraubten Fürstin der Weissagung und
legte mit seiner ganzen Flotte vor der Insel Kranaë vor Anker, wo die treulose und leichtsinnige
Gattin des Menelaos ihm jetzt freiwillig ihre Hand reichte und das feierliche Beilager gehalten wurde.
Da vergaßen beide Heimat und Vaterland und zehrten von den mitgebrachten Schätzen lange Zeit in
Herrlichkeit und Freuden. Jahre vergingen, bis sie nach Troja aufbrachen.
Die Griechen
Die Versündigung, die sich Paris als Gesandter zu Sparta gegen Völkerrecht und Gastrecht hatte
zuschulden kommen lassen, trug im Augenblick ihre Früchte und empörte gegen ihn ein bei dem
Heldenvolke der Griechen alles vermögendes Fürstengeschlecht. Menelaos, König von Sparta, und
Agamemnon, sein älterer Bruder, König von Mykene, waren Nachkommen des Tantalos, Enkel des
Pelops, Söhne des Atreus, aus einem an hohen wie an verruchten Taten reichen Stamme; diesen
beiden mächtigen Brüdern gehorchten außer Argos und Sparta die meisten Staaten des
Peloponneses, und die Häupter des übrigen Griechenlands waren mit ihnen verbündet. Als daher die
Nachricht von dem Raube seiner Gattin Helena den König Menelaos bei seinem greisen Freunde
Nestor zu Pylos traf, eilte der entrüstete Fürst zu seinem Bruder Agamemnon nach Mykene, wo
dieser mit seiner Gemahlin Klytämnestra, der Halbschwester Helenas, regierte. Der teilte den
Schmerz und den Unwillen seines Bruders; doch tröstete er ihn und versprach, die Freier Helenas
ihres Eides zu gemahnen. So bereisten die Brüder ganz Griechenland und forderten seine Fürsten zur
Teilnahme an dem Kriege gegen Troja auf. Die ersten, die sich anschlossen, waren Tlepolemos, ein
berühmter Fürst aus Rhodos, ein Sohn des Herakles, der sich erbot, neunzig Schiffe zu dem Feldzuge
gegen die trügerische Stadt Troja zu stellen; dann Diomedes, der Sohn des unsterblichen Helden
Tydeus, der mit achtzig Schiffen die mutigsten Peloponnesier der Unternehmung zuzuführen
versprach. Nachdem die beiden Fürsten mit den Atriden zu Sparta Rat gepflogen, erging die
Aufforderung auch an die Dioskuren oder Zeussöhne Kastor und Pollux, die Brüder Helenas. Diese
aber waren schon auf die erste Nachricht von der Entführung ihrer Schwester dem Räuber
nachgesegelt und bis zur Insel Lesbos, ganz nahe an die trojanische Küste, gekommen; dort ergriff ein
Sturm ihr Schiff und verschlang es. Die Dioskuren selbst verschwanden; aber die Sage versicherte, sie
seien nicht in den Wellen umgekommen, sondern ihr Vater Zeus habe sie als Sternbilder an den
Himmel versetzt, wo sie als Beschirmer der Schiffahrt und Schutzgötter der Schiffahrenden ihr
sorgenvolles Amt von Zeitalter zu Zeitalter verwalten. Indessen erhub sich ganz Griechenland und
gehorchte der Aufforderung der Atriden; zuletzt waren nur zwei berühmte Fürsten noch zurück. Der
eine war der schlaue Odysseus aus Ithaka, der Gemahl Penelopes. Dieser wollte sein junges Weib
und seinen zarten Knaben Telemachos der treulosen Gattin des Spartanerköniges zuliebe nicht
verlassen. Als daher Palamedes, der Sohn des Fürsten Nauplios aus Euböa, der vertraute Freund des
Menelaos, mit dem Sparterfürsten zu ihm kam, heuchelte er Narrheit, spannte zu dem Ochsen einen
Esel an den Pflug und pflügte mit dem seltsamen Paare sein Feld, indem er in die Furchen, die er zog,
statt des Samens Salz ausstreute. So ließ er sich von beiden Helden treffen und hoffte dadurch von
dem verhaßten Zuge freizubleiben. Aber der einsichtsvolle Palamedes durchschaute den
verschlagensten aller Sterblichen, ging, während Odysseus seinen Pflug lenkte, heimlich in seinen
Palast, brachte seinen jungen Sohn Telemachos aus der Wiege herbei und legte diesen in die Furche,
über die Odysseus eben hinwegackern wollte. Da hob der Vater den Pflug sorgfältig über das Kind
hinweg und wurde von den laut aufschreienden Helden seines Verstandes überwiesen. Er konnte
sich jetzt nicht länger mehr weigern, an dem Zuge teilzunehmen, und versprach, die bitterste
Feindschaft gegen Palamedes in seinem listigen Herzen, zwölf bemannte Schiffe aus Ithaka und den
Nachbarinseln dem Könige Menelaos zur Verfügung zu stellen.
Der andere Fürst, dessen Zustimmung noch nicht erfolgt, ja dessen Aufenthalt man nicht einmal
kannte, war Achill, der junge, aber herrliche Sohn des Peleus und der Meeresgöttin Thetis. Als dieser
ein neugebornes Kind war, wollte seine unsterbliche Mutter auch ihn unsterblich machen, steckte
ihn, von seinem Vater Peleus ungesehen, des Nachts in ein himmlisches Feuer und fing so an zu
vertilgen, was vom Vater her an ihm sterblich