»Was genau meinen Sie damit? Können Sie unseren Zuschauern etwas mehr Futter anbieten?« Boom – genau dahin sollte ich den Mediengeier lenken – check!
»Ungerechtigkeit, beispielsweise. Fehlende Aufklärung, politische Machenschaften, verschollene Gelder und zu viele Geheimnisse.« Ich setze zum Gehen an in dem Wissen, dass Julius die Verfolgung aufnehmen wird.
»Geht es auch etwas genauer, Roya? Inwieweit könnten Sie als Ministerin denn etwas gegen diese Problemchen unternehmen?« Ich drehe mich um, laufe rückwärts weiter und halte Blickkontakt zur Kamera.
»Ich kann doch noch nicht all mein Dynamit verpulvern. Ein wenig Vorfreude auf die Liveshows möchte ich den Leuten vor den Bildschirmen schon noch lassen. Man sieht sich. Ach, und Julius«, einen dummen Spruch zum Abschied und ich habe ihn an der Angel, »duzen Sie mich beim nächsten Mal, ich komme mir sonst vor wie eine alte Jungfer. Also dann, immer schön artig bleiben.« Ich klemme die Unterlippe zwischen die Zähne und winke verspielt, bevor ich Fenja unterhake und das Schulgelände auf kürzestem Weg verlasse.
»Whoohoo!« Kuno klatscht lauthals in die Hände und auch die anderen lösen sich aus ihren ernsten Posen.
»Roya, mit diesem Auftritt haben Sie ein bombensicheres Ticket in die nächste Runde ergattert und jeder Ihrer Mitschüler wird mir beipflichten, wenn ich Ihnen sage: Das war erst der Anfang! Von mir gibt es heute keine Kritik. Morgen schon wird Ihr Gesicht Teil der ersten Berichterstattung sein. Auf Ihren Spitznamen bin ich schon sehr gespannt. Fakt ist jedoch, die Regierung wird nicht sonderlich erfreut über diesen provokanten Auftritt sein. Zu unserem Glück ist jedoch genau das der Stoff, aus dem gute Fernsehshows gemacht werden. Glückwunsch zur Reifeprüfung. Sie sind unsere erste Dame im Regierungspalast, darauf verwette ich sogar meinen Allerwertesten.« Sie klapst sich mit einem Augenzwinkern auf den perfekt geformten Ar… und benennt das nächste Opfer.
Eine Stunde später haben wir alle Interviews durchgearbeitet und verlassen gestärkt die Aula der Akademie. Ein jeder konnte auf seine Weise glänzen und mit Charme, Klugheit oder Witz die Reporter neugierig machen. Die Dozenten haben gute Arbeit geleistet und selbst Moreno ist nach dieser Performance sein Eigenlob zu gönnen.
»Roya, bleibst du kurz stehen? Bitte!« Warum kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen? Wie deutlich muss ich noch werden? Ich möchte ihn nicht sehen, hören, riechen, was auch immer – ja, erst recht nicht schmecken!
»Was?« gehe ich Tam forsch an. »Ist es wichtig, ansonsten würde ich mich gern auf den Weg machen.«
»Ich möchte nicht, dass es zwischen uns so ist.«
»Ach, wie ist es denn zwischen uns?« Die Antwort warte ich gar nicht ab. »Ich kann es dir sagen: AUS! Ich war mit deinem Bruder zusammen, bevor er wie vom Erdboden verschwunden ist und daran bist du ja wohl nicht unschuldig.« Tam greift sich an den Hinterkopf und kneift die Augenbrauen überrascht zusammen.
»›Verschwunden‹ würde ich es nicht nennen.« Ich könnte ihm glatt eine scheuern.
»Ach nein? Wie ›nennst‹ du es denn, wenn ein Mensch unauffindbar ist und kein Lebenszeichen von sich gibt?« Keine Antwort, war ja zu erwarten. »Am Abend der Versammlung trugst du seinen Schal, seine Mütze, seine selbstgestrickten Handschuhe, um dich für ihn auszugeben und an mich heranzukommen.«
»Ja, schon, aber…«
»Aber? Ich höre?« Er will näherkommen, doch bleibt abrupt stehen, als ich meinen Wage-es-ja-nicht-Blick aufsetze, der wie eine Art Hypnose zu funktionieren scheint.
»Ich habe die Sachen meines Bruders genommen und mich verstellt, damit du mir endlich zuhörst. So gefährlich Tristan auch ist, ich würde ihm doch nie etwas anhaben. Dass er nicht wieder auftaucht, konnte ich nicht wissen, als ich ihn versetzt habe.«
»Hä, wie meinst du das?«
»Ich gebe zu, dass es eine linke Nummer war, ihm in deinem Namen eine Abfuhr zu erteilen.«
»In meinem Namen? Hast du deine Stimme verstellt oder was?«
»Nein, ihr habt bisher über Zettel unter dem Fußabstreicher kommuniziert und das ist nicht sonderlich schwer zu faken.« Mir brummt der Schädel. Warum sollte Tristan auf eine falsche Nachricht so heftig reagieren und gleich das Weite suchen?
»Was hast du ihm denn geschrieben, dass er jeglichen Kontakt zu mir über Nacht abbricht?«
»Liebster Tristan, dein Vater ist uns auf die Schliche gekommen und verlangt Tam zurück auf seinen Platz. Er hat gedroht dich wieder einzuweisen, bla, bla, bla…« Mein Hals schnürt sich zu, obwohl ich so vieles zu sagen habe. Ich möchte schreien, ihn schlagen, meine Haare ausreißen, auf den Boden stampfen und – die Zeit zurückspulen. Doch ich kann nicht.
»Das ist kein ›Bla-Bla‹, wie du es so schön bezeichnest. Du hast ihn in einer Nacht- und Nebelaktion aus der Stadt gejagt. Du bist unbeschreiblich. Wer weiß, wo er ist, oder…« Schlagartig verlassen mich meine verbliebenen Kräfte und ich halte inne, um nicht auf der Stelle ohnmächtig zu werden. Seit Wochen nagt die Ungewissheit an mir und nun ist ein pubertärer Eifersuchtsunsinn schuld an Tristans Verschwinden? Ich bin so rasend und verzweifelt doch weiß nicht wohin mit mir?
Tam nimmt meine Hand und zuckt nach hinten, als ich sie ihm schroff zurückschlage. Ist er jetzt völlig übergeschnappt? Nach dieser Aktion glaubt er doch nicht wirklich, dass ich Lust auf Zärtlichkeiten hätte?
»Sorry, ich konnte nicht wissen, dass er dich ohne Widerstand zu leisten einfach aufgeben würde. Ich könnte das niemals!« Das ist doch die Höhe. Ich atme tief ein und aus, damit ich mich nicht vergesse, und versuche in Zimmerlautstärke weiterzureden.
»Toll, ich fühle mich geschmeichelt. Wenn ich dir wirklich etwas bedeute, dann kannst du dich jetzt gleich mal damit beschäftigen, den Aufenthaltsort deines Lieblingsbruders zu finden. Das versuche ich schon seit über fünf Monaten ohne ein einziges Lebenszeichen. Ihm ist etwas zugestoßen. Das weiß ich einfach und deine Unschuld ist noch lange nicht bewiesen. Wir reden später.«
»Ich freu mich drauf.« KLATSCH. Meine Hand landet in seinem Gesicht und fängt sofort an höllisch zu brennen. Das war einfach zu viel. Er genießt es, der greifbare Baliette-Bruder zu sein, egal wie abfällig ich mich ihm gegenüber verhalte. Wäre er wirklich unwissend, könnte er sich vor Sorge wohl kaum freuen. Fenja hat mir von seinen Bemühungen, sich zu erklären, berichtet und auch davon gesprochen, wie unendlich traurig er ist mich verloren zu haben. Ich muss früher oder später mit ihm reden. Das habe ich meiner Freundin geschworen. Aber den Zeitpunkt bestimme ich und auch nur zu meinen Bedingungen. Für dumm verkaufen und auf meinen Gefühlen herumtrampeln lasse ich mir nicht. Nicht, solange ich noch einen letzten Funken gesunden Menschenverstand besitze und Tams trügerischer Masche zu widerstehen vermag.
Das Herz der Nation
»Komm rein und lass die Schuhe an. Elvis hat die Leinwand aufgebaut, um die Berichterstattung in voller Größe erleben zu können.« Fenja winkt mit dem umgebundenen Geschirrtuch wie das vorbildliche Hausmütterchen und verschwindet in der Küche, wenn man das zwei Quadratmeter große Loch neben der Eingangstür überhaupt so nennen kann. Vorerst bietet es mir einen perfekten Rückzugsort, um die Anspannung in der Luft erst mal wirken zu lassen. Alles erscheint mir immer noch wie im Nebel. Ich muss völlig von Sinnen gewesen sein, als ich meiner Freundin den heutigen Nachmittag zusagte in dem Wissen, dass ich mit Tam für mehrere Stunden im selben Raum sein werde. ›Arschbacken zusammenkneifen und durch‹ hat Fenja gesagt, ›Denn wenn du dich von seiner Anwesenheit einschüchtern lässt, wirst du ihn niemals zum Reden bringen‹. Recht hat sie.
»Fenja!« Dem Geruch nach zu urteilen, muss da dringend etwas