»Darf ich dich um etwas bitten?« Ich nicke zaghaft. »Wenn du in die Warte einziehst, hältst du mir den Platz als deine Wahlkampfmanagerin frei, auch wenn ich eine ganz miserable Freundin war und ich alles bereue und…« Ich schließe sie fest in meine Arme und spreche ihr mit zittriger Stimme ins Ohr:
»Ich danke dir, Fenja! Du musst nichts bereuen. Ich war so egoistisch und selbstgerecht. Ich habe dich zu Unrecht so lange zappeln lassen und wenn du mir verzeihen kannst, wäre ich sehr stolz und dankbar, dich als Managerin an meiner Seite zu wissen!« Freudentränen befeuchten meine müden Augen und ein riesiger Stein fällt von meinem Herzen. »Danke! Immer und immer wieder Danke, dass du den Mut hattest mir das jetzt noch zu sagen!« Ich möchte sie einfach festhalten und nie wieder loslassen. Das warme Gefühl, das mich durchflutet, ist so unbeschreiblich schön, dass der angestaute Sack Schuldgefühle von mir abfällt und mit einem lauten Krachen in der Belanglosigkeit verschwindet.
»Ich danke dir auch. Die Funkstille hat mich wahnsinnig gemacht. Ich bin ohne dich doch nur ein halber Mensch.« Sie trocknet meine Tränen mit ihrem blassrosa T-Shirt und sieht mir freundlich in die Augen. »Pass auf: Du schreibst jetzt einen überragenden Test und ich nutze die vier Stunden, um uns ein herrliches Mittagsprogramm auf die Beine zu stellen. Schwamm drüber und Tränen trocknen. Jetzt kommt es auf dich an!«
»Ich habe dich nicht verdient!«
»Kann schon sein, aber ich bin ein harmoniebedürftiges Menschenkind mit einem Radar für reumütige Seelen und auch nicht unschuldig an dieser Misere, okay?«
»Nicht okay, aber jetzt der Test und dann die demütige Entschuldigungszeremonie.« Fenja schenkt mir ihr warmherziges Lächeln und gibt meine Hand zum Arbeiten frei. Energiegeladen und zutiefst dankbar bin ich mir meiner Sache nun absolut sicher…
240 viel zu kurze Minuten später setzte ich einen Punkt hinter den letzten Satz, schließe für wenige Atemzüge die Augen und klicke auf ›senden‹. Das war's. Jetzt habe ich es nicht mehr in der Hand und muss neun endlose Wochen auf ein Ergebnis warten, das über meine Zukunft entscheidet.
»Ich hoffe für dich, dass dieser Test unsere Eintrittskarte in die Riege der Schönen und Mächtigen ist, Frau Ministerin.« Fenjas breitem Grinsen kann man nicht widerstehen. Es scheint so einfach an alte Gewohnheiten anzuknüpfen, dass ich hoffe, dieses zarte Band nicht durch die nötigen Enthüllungen die Zwillinge betreffend zu gefährden.
»Ich auch.« Eine kurze und knackige Antwort, die absolut keine Rückschlüsse auf meine Geheimnisse zulassen sollte.
»Hast du Tam heute eigentlich schon gesehen?« Selbst ihre Direktheit habe ich vermisst. Und ja, leider kann ich ihn an solch einem Tag wohl kaum übersehen.
»Flüchtig«, antworte ich, »keine Ahnung, ob er von mir Notiz genommen hat, aber ich bin auch nicht sonderlich scharf darauf. Wollen wir gehen?« Ich packe meinen Rucksack und schiebe die Brille zurecht.
»Ich glaube, meine Liebe, du schätzt den guten Tam völlig falsch ein. Du bist ihm unheimlich wichtig. Es vergeht kein Tag, an dem er nicht nach dir fragt oder sich um dich sorgt.«
»Können wir das Thema später diskutieren und erstmal verschwinden? Ich habe keine Lust auf…«
»Roya?« Ich habe es geahnt und nun ist meine Ahnung real geworden. Tam muss direkt hinter mir stehen und plötzlich sind meine Füße wie angewachsen. Ich kann mich nicht bewegen, nicht klar denken, geschweige denn in einem menschlichen Rhythmus atmen.
»Oh Tam, wie praktisch, wir sprachen gerade von dir.« Fenja versucht einmal mehr den Flügelmann zu spielen und macht damit jeglichen Fluchtversuch unmöglich.
»Ach ja?« Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen diese Stimme einmal für zuckersüßen Honig gehalten zu haben. Er ekelt mich einfach nur an. In der Akademie sind wir uns in letzter Zeit so gut wie nie über den Weg gelaufen, da unsere Schwerpunkte sich nicht wirklich überschneiden. Hin und wieder bekam er meine kalte Schulter zu spüren oder musste gegen eine dicke Wand der Ignoranz reden. Ich habe ihn links liegen lassen, da seine falsche und durchtriebene Visage einem Tritt in die Magengrube gleichkommt.
»Was gab es denn da so Spannendes auszutauschen, die Damen?« Deinen Charme kannst du steckenlassen, du…
»Ach Mädchenkram, du weißt doch, wie das ist, Geheimnisse über Geheimnisse. Du wirst absolut nichts aus uns herausquetschen können. Stimmt's, Roya?«
Fenjas Kupplerkünste in allen Ehren, aber ich werde mit diesem Typ nicht einmal Smalltalk betreiben. »Auch egal. Wie lief dein Test, Tam? Roya wird sicherlich eine Runde weiterkommen und na ja, solltest du das ebenfalls schaffen, dann…«
»Dann werde ich ihn auch in der Warte auf Abstand halten!«, unterbreche ich Fenjas überschwängliche Vorfreude und mache einen Abflug, ohne Tam auch nur ein einziges Mal ins Gesicht geblickt zu haben. Hoffentlich hat er es kapiert.
Für zwei Sekunden glaube ich tatsächlich, mein Plan würde aufgehen, als ich Fenja herannahen höre. Ihre übergroße Schultasche ist mit vielen unterschiedlichen Glöckchen geschmückt, welche ihren Auftritt stets geräuschvoll ankündigen.
»Warte, warte, warte!« Um uns nicht noch weiter zu entzweien, halte ich an und lasse sie zu mir kommen.
»Was?«, pflaume ich meine Freundin an. »Du hast keine Ahnung, wer Tam wirklich ist, also versuche bitte nie wieder, verstehst du, nie wieder uns beide zu verkuppeln!«
»Ich wollte doch nur…«
»Fenja, steht unser Mittagsprogramm?« Sie nickt. »Dann bring mich von hier weg und ich kläre dich auf.«
»Aber Tam…«
»Nix ›aber Tam‹! Wenn dir unsere Freundschaft noch etwas bedeutet, dann vergiss diesen Verräter und warte, bis du alle Details kennst.« Keine Widerworte.
»Ich dachte, wir machen einen kurzen Schlenker bei mir vorbei und bummeln dann in den Park. Mum wollte mich kurz sehen nach diesem Prozedere, wird aber sicher keine Besitzansprüche stellen, wenn du an meiner Seite bist.«
»Park klingt absolut perfekt«, entgegne ich und bin stolz, dass sie diesen Ort ausgewählt hat. Wir beide haben Fenjas erste Liebe und meinen besten Freund Tarik dort zum letzten Mal lebend gesehen und seitdem einen riesigen Bogen um die verschlafene Grünanlage gemacht. Was, wenn sie herausfindet, dass Tariks Mum im BePolar-Dschungel eine wichtige Rolle gespielt und ihren Sohn ebenfalls als Versuchskaninchen auf die Liste der ›friedlichen Revolutionäre‹ gesetzt hat? Ich werde diese Information noch ein wenig für mich behalten. Lügen, um einen geliebten Menschen zu schützen – kenne ich, kann ich, mache ich und belade mein Herz erneut mit schwerem Ballast.
»Bist du bereit für die hungrige Meute?« Fenjas Grinsen gefällt mir ganz und gar nicht.
»Welche Meute?« Doch die Frage erübrigt sich, als wir das Erdgeschoss erreichen und einen Blick auf den Schulhof erhaschen können. Ein Dutzend Vans mit ebensovielen Kamerateams lauert vor der Schule auf die herausströmenden Absolventen. Wie konnte ich das nur vergessen? Eliska hat exakt diese Situation mit uns wieder und wieder geübt, um uns einen Vorteil gegenüber den Mitschülern zu ermöglichen. Doch für mich wird es eher ein Spießrutenlauf. Kurzer Hand checke ich meine Frisur und säubere die Mundwinkel. Anschließend stecke ich das schlabbrige T-Shirt in die Jeans und binde meine Schleifen neu, um von den münzgroßen Löchern in den Schuhen abzulenken, die meine Ma so verabscheut.
Fenja beobachtet mein Tun mit einiger Skepsis und legt zu guter Letzt selbst Hand an. Im Nu trage ich einen lockeren Dutt und eine von Fenjas Ketten um den Hals.
»Jacke an!«, kommandiert sie und ich tue wie mir befohlen.
»Nicht zu nerdig mit Brille?«, frage ich die Expertin mit dem unterirdischen Modegeschmack.
»Nein, im Gegenteil. Das intelligentere Aussehen kann dir heute nicht schaden. Steh gerade und zeig dein