»Möglicherweise findest du neue Hinweise in ihren Zeilen, die uns nur Rätsel aufgegeben haben.« Ich drücke die Notizen meiner Schwester an mich. Dieses Bündel Papier ist vermutlich das letzte, was sie vor ihrem Tod in den Händen gehalten hat. Es fühlt sich rau und fremd an, als ich darüber streiche, aber es ist ein Teil von ihr und ich darf es an mich nehmen. Dankbar nicke ich Moreno zu und mache mich zum Gehen bereit.
»Warte, wir haben immer noch nicht über deine jetzige Verfassung gesprochen. Du warst seit Tagen nicht in der Akademie und verpasst wichtige Einheiten zur Vorbereitung auf die Präsentationen und öffentlichen Auftritte.« Wütend lasse ich mich erneut in den Stuhl sinken. Sein Ernst? Ich dachte, es wären genug der überzogenen Standpauken. Ich habe tagsüber auch noch ein Leben und das sollte er respektieren.
»Mir ist gerade nicht so nach Gesellschaft oder schnöden Lerneinheiten zumute. Wenn Tristan aufwacht…«, weiter komme ich nicht.
»Du sagst es: wenn er aufwacht. Roya, wir müssen der Realität ins Auge blicken. Sein Leben steht auf Messersschneide und deines beginnt gerade Fahrt aufzunehmen. Du hast eine Aufgabe, für die deine Schwester dich vorgesehen hat. Wenn unser Land vor die Hunde geht, kann Tristan sich nur wünschen, nie wieder aufzuwachen. Die gewaltsamen Aufstände nehmen zu und es wird immer schwieriger, für die Regierung diese vor der Öffentlichkeit zu verbergen.«
»Ich weiß, und?«, entgegne ich patzig.
»Und, wie du so treffend sagst, du bist ein wichtiger Erfolgsfaktor, genau wie dein Bruder und wir brauchen euch zu einhundert Prozent einsatzbereit.«
»Was hat Rafael damit zu tun?« Ich bin mir bewusst, dass er und seine IT-Heinis gute Arbeit leisten, kenne jedoch null Details.
»Rafaels Team hat es geschafft, einen Troyaner zu entwickeln, welcher es uns ermöglichen wird, jegliche Korrespondenz der Minister und ebenso der Middener Polizei abzufangen. Sollte es uns zudem gelingen, einen von euch in die Warte zu schleusen, steht der nächsten Stufe nichts mehr im Wege.«
»Die nächste Stufe?« Ich habe keinen blassen Schimmer, was er da faselt?
»Später, Kleine, später.« Er winkt ab und erhebt sich. »Ich erwarte dich heute Nacht in der Akademie. Wir können uns einen weiteren Ausfall nicht leisten. Caris Gedächtnisverlust wurde uns von sicherer Quelle bestätigt und macht sie somit nutzlos für unser Vorhaben. Besinne dich auf deine Vaterlandsliebe sowie der schwesterlichen Pflicht und stehe zu deinem Versprechen.« Er legt mir eine Hand auf die Schulter und drückt diese ein wenig zu fest, bevor er mit einem eiskalten Lächeln aus der Tür verschwindet und in mir nur der bekannte Brechreiz zurückbleibt.
Tristan
»Warum kann das nicht noch ein wenig warten, Roya?«
»Rafael, seit 18 Jahren trauern unsere Eltern um dich, ohne zu wissen, dass du drei Straßen weiter unter dem Namen ›Rufus irgendwie‹ ein Zimmer gemietet hast.«
»Du kennst Ma, sie würde einen Schreikrampf bekommen, ihr Leben in Frage stellen und sich eine schlechte Mutter schimpfen.«
»Sie liebt dich und all die Selbstzweifel würden sich lohnen, wenn sie dich wohlauf und in Sicherheit wüsste.«
»Nein, ich kann nicht!«
»Du Sturkopf! Du kannst nicht? Ich kann auch nicht! Dieses Doppelleben ist nicht mehr tragbar! Ich lüge den Eltern tagtäglich ins Gesicht, um dein Geheimnis zu wahren und…«
»Sprich leiser, Tristans Puls schnellt schon nach oben!«
»Ach, du sch…, du hast recht! Ob er uns hören kann?« Kann ich. meine Liebste, doch es schmerzt, weil ich das Gespräch gegen die Wand fahren sehe.
»Ist schon möglich, kleine Schwester.«
»Er würde dir raten reinen Tisch zu machen und alles aufzuklären. Er ist das Lügen genauso leid wie ich. Wir sind es den Familien schuldig. Schließlich betrifft es nicht nur dich und mich. Die Wöllers haben Antworten, die du mir nicht geben kannst; Fenja weiß gar nicht, dass Tarik als Schläfer vorgesehen war und sein Tod Tam erst auf die Bildfläche brachte, und…«
Was? Royas Freund Tarik? Er ist bei einem Autounfall letzten Sommer ums Leben gekommen und – ein Zufall, der passender nicht hätte fallen können. In dieser Stadt sind alle wahnsinnig. Vater hat mit keiner Silbe erwähnt, dass Tams Schaffen in der Akademie lediglich ein spontanes Arrangement war, um den ›Plan‹ am Leben zu halten. Bisher ging ich davon aus, dass er als Kopf der BePolaristen selbstverständlich seinen Vorzeigepolarjungen ins Rennen schickt.
»Rafael, BITTE!«
»Ich brauche Zeit, Roya. Zwing mich nicht.«
»Du hattest mein ganzes Leben lang Zeit. Tu mir den Gefallen. In wenigen Wochen werde ich weit, weit weg sein und die Gewissheit, dass du in NW/74 bleibst und unsere Eltern ein neues Projekt in ihrer Nähe haben, macht mir den Abschied so viel leichter. Bitte, denk darüber nach!«
»Wenn die Eltern die Wahrheit kennen, werden sie dich niemals nach Midden lassen.« Damit hat er vollkommen recht.
»Gut, dann lass uns warten, bis es für mich kein Zurück mehr gibt. Aber ich warne dich: Mach keinen Rückzieher! Sie haben die Wahrheit verdient. Und außerdem – wer passt sonst auf dich auf, wenn ich in der Warte festsitze und du mich nur noch auf der Mattscheibe zu sehen bekommst?«
»Lach nur, ich komme gut alleine klar, auch wenn ich Miss Shootingstar natürlich vermissen werde.«
»Du bist doof!« Sie lacht. »Abgemacht?«
»Abgemacht!«
Eine Tür öffnet und schließt sich.
»Schon wieder warten. Warten und Lügen.« Sie seufzt und legt ihren hübschen Kopf auf meine Brust. »Tristan, komm zu mir zurück! Ich brauche etwas wahrhaft Echtes und Unantastbares in meinem Leben. Ich brauche dich!« Gib mich niemals auf, schönes Mädchen! Ich werde aufwachen, wahrhaft echt und für dich da sein. Wenn ich nur könnte…
Tag 255
»Au!« Ich halte mir den Kopf und öffne langsam die Augen. Es dauert einen Moment, bis ich meine Umgebung erkennen kann, da mich ein winziger Lichtstrahl genau ins rechte Auge blendet. Ich strecke die Hand aus und treffe auf einen Widerstand. Ich nehme die andere Hand dazu und versuche mit aller Kraft die Barriere zu durchbrechen. Augenblicklich fällt der Schleier. Ich strecke mich zu allen Seiten, bis die Zehen- und Fingerspitzen die Grenze meines Käfigs erreichen. Panik steigt in mir auf. Meine Augen beginnen zu rotieren und ich atme so schnell und flach, dass es mir beinahe die Besinnung raubt. Wo bin ich? Was für ein krankes Spiel ist das hier?
»Hilfe!«, rufe ich erst zaghaft und dann immer lauter, bis mir der eigene Schrei in den Ohren brennt. Meine Fäuste trommeln wie von selbst gegen den dunklen Deckel der Kiste, in der ich offensichtlich gefangen bin. Nein! Bitte nicht! Bitte nicht! Bitte nicht! Ich will hier raus! Ich will nach Hause! Ich will zu Tristan, zu Fenja, zu Rafael, meinen Eltern, ja sogar Tams Anblick würde mir jetzt Freude bereiten.
Pam – Pam – Pam – gedankenlos und in völliger Trance schlage ich mit letzter Kraft gegen meinen Kokon. Nach unzähligen Minuten verkrampfen schließlich meine Arme und sinken bleischwer zu Boden. Eine heiße Träne rinnt mir die Wange hinunter und verwandelt sich allmählich in ein nicht endenwollendes Schluchzen. Soll dies das Ende sein? Angst und Trauer überkommen mich in einem Maße, welches ich selbst nach Rheas Tod nicht erlebt habe. Ist mir das eigene Leben tatsächlich wichtiger als das meiner geliebten Mitmenschen? Heule