»Okay: ›Sehr geehrte Frau Roth, hiermit gratulieren wir Ihnen…‹« Weiter kommt sie nicht. Fenja rastet völlig aus.
»Ja, ja, ja! Wie cool, ihr beide werdet die Hütte so was von rocken. Geil, lasst uns feiern!«
»Ne, Leute, lasst mal. Ganz lieb von euch, aber ich möchte einfach nur hier sein und später das Versprechen an zu Hause einlösen. War eine lange Nacht und ich bin total erledigt. Geht ihr, bitte. Tam hat ein wenig Party verdient.« ›Tam – verdient‹ – in einem Satz? Ich möchte nicht weiter darüber nachdenken. Was mich allerdings wundert, ist, dass die Drei sich ohne Widerworte geschlagen geben und auf leisen Sohlen mein Zimmer verlassen. Himmlisch!
»Ach, Fenja, hast du noch eine Sekunde?« Nö, Weibergespräche? Ich will weg!!!
»Für dich doch immer. Jungs, geht schon mal vor.« Jawohl, verschwindet. Ganz weit weg. Ich werde euch sicher nicht vermissen. »Worum geht’s?«
»Würdest du dich für ein Experiment hergeben, welches mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem apokalyptischen Zustand enden wird?« Jetzt wird's ja doch noch spannend.
»Was für eine Frage.« Sie lacht.
»Ich kann noch nicht zu viel verraten, aber es geht um Rafael, meine Eltern, dich und die Wöllers.« Oje, jetzt lässt sie die Katze also aus dem Sack.
»Was willst du von den Wöllers? Haben sie nicht schon genug Apokalypse hinter sich?« Haben sie, Fenja, aber du kennst nur die halbe Wahrheit. Ich übrigens auch, also erzähl schon, Roya!
»Vertraust du mir?«
»Ja schon, aber…«
»Dann sei nächsten Freitag 19:00 Uhr bei mir und bring Zeit und Nerven mit. Sorry, mehr möchte ich dir noch nicht sagen.« Diese Antwort ist unbefriedigend. Ich langweile mich in meinem Bett zu Tode und wenn dann etwas Spannendes passiert, lasst ihr mich außen vor. Ist doch scheiße! »Und Fenja, lass Elvis da raus, okay? Dieser Abend sollte ihn noch nicht belasten müssen. Schaffst du das?«
»Elvis ist mein Anker in Seenot gewesen. Ihm verdanke ich mein Leben. Aber er weiß auch, dass ich Tarik niemals, niemals, niemals vergessen werde. Trotzdem bin ich noch nicht an dem Punkt, an dem ich mit Wöllers und Elvis über vergangene Zeiten quatschen oder alte Wunden neu aufreißen möchte. Das ist meine Baustelle und es sind meine Erinnerungen. Er wird es verstehen.«
»Danke dir! Und jetzt raus. Geht feiern und lasst Tam hochleben.« Bäh! Sie wird doch nicht neue Sympathien für mein Bruderherz entwickeln?
»Ich bin nicht sicher, ob ich nach deiner Ankündigung noch in Feierlaune bin. Schon gar nicht, wenn du hier Mutterseelen allein im Krankenhaus rumsitzt.« Hallo? Ich bin auch noch da.
»Ich bin nicht allein, Fenja!« Sag ich ja.
»Tut mir leid Süße, ich verstehe dich natürlich. Hab dich lieb.«
»Ich dich auch. Los, verschwinde.« Ihr Lächeln und das erfreuliche Geräusch der zufallenden Tür erheitern mein geschundenes Gemüt. Wie überaus poetisch ich da gleich werde…
»Endlich nur wir zwei! Roya und Tristan leben hoch!« Sie schmiegt sich an mich und die Krankenhausparty mit dem Komaboy beginnt.
H wie Helikoptermutter
Es ist Juni. Nur noch ein paar Wochen, bis das Thema Schule endgültig der Vergangenheit angehört. Anstatt, wie alle anderen, die Parks und Kinos unsicher zu machen oder einfach auf der faulen Haut zu liegen, hocke ich Nacht für Nacht in der Akademie und bereite mich auf die kommende Initiation vor. Gegen alle Erwartungen sind wir Schläfer vollzählig in die Riege der Eleven aufgenommen worden und meistern die letzten Anstrengungen gemeinsam, bevor auch dieses Kapitel zu Ende geht. Eliska ist zum Feinschliff ihrer Arbeit übergegangen und unterrichtet uns überwiegend in Einzelsitzungen. Dank unserem Nahkampfspezialisten Tima jagt mir der Nordwestpark bei Dunkelheit nun keine Angst mehr ein. Moreno hat Worte wie ›ähm‹ und ›äh‹ gänzlich aus meinem Wortschatz verbannt und die Af-fi-ni-tät – tolles Wort – für Rhetorik geweckt. Landesgeschichte hängt allen so was von zum Hals raus, dass Dr. Gregorio uns ein ›bestanden‹ in die Akte geschrieben und den Unterricht vorzeitig erfolgreich abgeschlossen hat. Die dadurch entstandenen Freistunden füllt Lehmann und das nenne ich einen wahren Glücksfall. Wir versetzen uns immer wieder in neue, schier ausweglose Situationen und sind gezwungen in kürzester Zeit bedächtig und vorausschauend zu handeln. Zudem lockert diese Gruppenphase stets die Anspannung und lässt sogar den ein oder anderen Lacher zu.
Prof. Pfefferhauser hat uns Dinge beigebracht, von denen ich nicht einmal wusste, das sie auf diesem Planeten existieren. Ich bin in der Lage, mein Gegenüber binnen Sekunden in Trance zu versetzen und ihn unter Hypnose davon zu überzeugen, dass er ein Hund ist und ich sein geliebtes Frauchen. Angsteinflößend, aber die wohl stärkste Waffe im Kampf um die Ministerposten. Wir sind unglaublich gut vorbereitet und trotzdem völlig planlos, was uns in der Warte bevorsteht. Nie zuvor stand ich im Konkurrenzkampf mit anderen und das vor laufenden Kameras. Zu keiner Zeit musste ich mein Privatleben öffentlich machen oder Anhänger rekrutieren. In der Theorie sind diese Dinge mittlerweile mit einem Fingerschnippen erledigt, doch die Realität wird anders aussehen, dessen bin ich mir bewusst.
Tristan macht leider keinerlei Anstalten, zurück ins Leben zu finden, und die erwartete Gleichgültigkeit seiner Familie hat sich schneller eingestellt, als ich angenommen hatte. Tag für Tag nutze ich die verbleibende Zeit, um ihn über meinen Tag, die Abläufe in Schule und Akademie sowie die Belanglosigkeiten meines Alltages auf dem Laufenden zu halten. Ich rede mit einem Geist, doch das ist alles, was ich im Augenblick tun kann. Irgendwann wird sich die Mühe lohnen. Irgendwann schlendern wir Hand in Hand die Straßen entlang, irgendwann leben unsere Kinder das Leben, für das ich nun in den Kampf ziehen werde und irgendwann finde ich den Mut, meinen Eltern und Fenja die Wahrheit über Rafael und Tarik zu sagen und einen Schuldigen zu finden.
»Roya, hier ist ein Mann von der Regierungsbehörde für dich. Äh, kommst du bitte!« Meine Mutter hat ein leichtes Zittern in der Stimme und steigt mir auf halber Treppe entgegen, um mein T-Shirt aus der Hose zu ziehen und lose Haarsträhnen hinter die Ohren zu schieben. »Sei höflich und steh gerade. Ich weiß nicht, was der nette Herr von dir will, aber es scheint sehr bedeutungsvoll zu sein. Ich warte in der Küche.« Sie winkt dem Besucher verhalten zu und verschwindet in Zeitlupe hinter der nächsten Ecke.
»Guten Tag, du musst Roya sein. Darf ich mich zunächst vorstellen?« Natürlich, dafür bist du ja gekommen, oder? »Mein Name ist Robertus Rosini und ich bin bis zur Landung der Kandidaten dein Vorbereitungsteam.« Team? Per Definition besteht ein ›Team‹ doch aus mehreren Mitgliedern, oder? »Die Verwunderung in deinen Augen lässt mich erkennen, dass du über diesen Umstand noch nicht ausreichend informiert worden bist.« Allerdings. Mit keiner Silbe wurde im Begrüßungsschreiben erwähnt, dass ein glatzköpfiger Pinguin, mit überteuerten Lederschuhen und Aktenkoffer hier aufschlagen und mir seine haarlosen Augenbrauen vor die Nase halten würde. Die seltsame Erscheinung jagt mir, zugegeben, ein wenig Angst ein. Er ist kaum größer als ich und seine penetrante Stimme schmerzt in meinen Ohren. Hoffentlich möchte er nicht allzu lange bleiben.
»Roya, magst du den Herrn nicht hereinbitten?« War ja klar. Mama stand die ganze Zeit in Rufbereitschaft und lockt uns mit Kaffee und Keksen in die Wohnstube.
»Ja, entschuldigen Sie, kommen Sie doch rein.« Ich lasse Robertus den Vortritt und schließe nachdenklich die Tür.
»Nun ja.« Er breitet den überdimensional großen Koffer auf dem Glastisch aus und lässt uns einen Blick auf dessen verwirrenden Inhalt erhaschen. »In 56 Tagen wird dich ein Wagen der Regierung um Punkt sieben am Morgen vor dem Haus abholen und zum nächstgelegenen Flughafen bringen.« Fliegen, ach du scheiße, hab ich noch nie gemacht! Er legt mir einen handlichen Apparat ins Sichtfeld und drückt den Start-Knopf. Ein Countdown beginnt rückwärts zu laufen und zeigt in Sekundengenauigkeit die verbleibende