Unter den Pfingstlern gab es tatsächlich Menschen, die von der Alkoholsucht befreit wurden. Auch wenn ich ihre Lehre für verrückt hielt, war ich bereit, sie zu akzeptieren, nur um die Freiheit von dem Fluch des Alkohols zu erlangen. Zu jener Zeit trank ich nicht viel und nahm selten an den Trinkgelagen teil. Das war der Fall, wenn das Problem in mir zum Vorschein kam. Ich verlor die Kontrolle über mich selbst. Das war für mich der größte Grund zur Sorge. Die „geistlich Aufgeklärten“ erläuterten uns, dass man auf das eigene „Ich“ vollständig verzichten sollte, damit der Heilige Geist zu uns kommen und ein Wunder der Heilung wirken würde. Allerdings konnten sie dieser wundervollen Wirkung nicht auf den Grund gehen. Sie ließen uns demütig auf die Gnade Gottes warten. Da ich schon begriff, wie schwer es war die Sucht mit eigenen Kräften zu bekämpfen, lernte ich, blind auf Gott zu vertrauen und wartete auf das Wunder. Auch wenn sich mein Gewissen dagegen auflehnte, wollte ich diese neue Taktik ausprobieren. Die Wunder folgten aber nicht. Allmählich fing ich an, diese Lösung zu anzuzweifeln. Auch meine Willenskraft wurde immer schwächer, obwohl sie zu jenem Zeitpunkt noch etwas zu sagen hatte. Hätte ich alle meine Kräfte mobilisiert und mir Rat von Experten in puncto Abstinenz geholt, hätte ich mich vielleicht von der Alkoholabhängigkeit befreien können. Ich aber schlug einen anderen Weg ein. Ich ließ mich von der neuen Lehre inspirieren und verzichtete dadurch auf meinen natürlichen Schutz und die Willenskraft, die noch ganz stark war. Ich ließ die Scharlatane die Kontrolle über mich übernehmen. Mir war natürlich nicht bewusst, dass ich so etwas tat. Ich verließ mich auch auf meine Schwester und meinen Schwager, weil sie mir aus ganzem Herzen helfen wollten. Ich glaube jedoch, dass es ihnen mehr darum ging, mich zu ihrer Gruppe anzuwerben. Sie versuchten mich zu verführen. Ihre angeblich gutgemeinten Absichten mir gegenüber führten zur Tragödie. Sie selbst fielen diesen destruktiven spirituellen Kräften zum Opfer, was ich bisher nicht nachvollziehen kann.
Zu jener Zeit schlug ich die Bibel manchmal wahllos auf, um etwas davon zu lesen. Ein paar Mal öffnete sich das Buch auf dem Psalm 42. Das gab mir zu denken, weil ich merkte, dass das kein Zufall sein konnte. Anscheinend wollte mir die Vorsehung Gottes dadurch zeigen, dass mir noch ein langer, beschwerlicher Weg zur göttlichen Wahrheit bevorstand – und vielleicht auch, dass mich Gott am Ende des Tages erhören würde. Ich stellte mir nur die Frage: „Wann eigentlich?“
Dieser tragische Krieg brach in mir 1995 aus. Ein Jahr später, als ich einen Schimmer der Neugeburt im Geist erlebte, war ich froh, dass ich schon über diese dramatische Lage hinweg war. Meine Freude war aber frühzeitig. Die richtige Schlacht war nicht vorbei. Sie fing gar noch nicht an. Bisher war das nur ein Vorspiel davon, was auf mich zukommen sollte. Der regelrechte Kampf stand noch vor mir. In meinen privaten Krieg sollten sich auch die weltlichen und himmlischen Interventionsarmeen einmischen. Dieser Schicksalssturm dauerte bis Anfang Juni 2007 an. Dann passierte etwas Unglaubliches: Alle Angriffe gegen mich wurden eingestellt. Ich konnte endlich aus voller Brust atmen.
Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann darf ich kommen und Gottes Antlitz schauen? Tränen waren mein Brot bei Tag und bei Nacht; denn man sagt zu mir den ganzen Tag: «Wo ist nun dein Gott?» Das Herz geht mir über, wenn ich daran denke: wie ich zum Haus Gottes zog in festlicher Schar, mit Jubel und Dank in feiernder Menge. Meine Seele, warum bist du betrübt und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, meinem Gott und Retter, auf den ich schaue. Betrübt ist meine Seele in mir, darum denke ich an dich im Jordanland, am Hermon, am Mizar-Berg. Flut ruft der Flut zu beim Tosen deiner Wasser, all deine Wellen und Wogen gehen über mich hin. Bei Tag schenke der Herr seine Huld; ich singe ihm nachts und flehe zum Gott meines Lebens. Ich sage zu Gott, meinem Fels: «Warum hast du mich vergessen? Warum muss ich trauernd umhergehen, von meinem Feind bedrängt?» Wie ein Stechen in meinen Gliedern ist für mich der Hohn der Bedränger; denn sie rufen mir ständig zu: «Wo ist nun dein Gott?» Meine Seele, warum bist du betrübt und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, meinem Gott und Retter, auf den ich schaue
(Psalm 42:2-12; Einheitsübersetzung).
Bombardiert mit der Liebe
Gebt Acht, dass euch niemand mit seiner Philosophie und falschen Lehre verführt, die sich nur auf menschliche Überlieferung stützen und sich auf die Elementarmächte der Welt, nicht auf Christus berufen.
(Brief an die Kolosser, 2:8)
Am Anfang von jedem Treffen wurden die Lieder gesungen, und der Herr wurde verherrlicht. Die Menschen, die die Begegnung führten, sorgten dafür, dass niemand mit zweitrangigen Angelegenheiten beschäftigt war, die seine Aufmerksamkeit ablenken konnten. Die besonders Frommen beteten mit geschlossenen Augen und majestätisch erhobenen Händen. Es ging ihnen vielleicht darum, mehr Kraft von Gott zu erhalten, die Herzen der Schwachen zu ermuntern oder um beide Dinge zugleich. Das Gruppengebet wurde immer wieder unterbrochen, weil die Leute einander in die Arme fielen, sich drückten und küssten. Man konnte nur nicht zwischen einem väterlichen und einem Judaskuss unterscheiden. Es herrschte die Atmosphäre der allgegenwärtigen Liebe. Die Anwesenden überschütteten sich mit den biblisch geprägten Komplimenten wie z. B. „Gott liebt dich und hat einen schönen Plan für dich”, oder: „Das ist gar kein Zufall, dass du heute hier mit uns bist“. Das war einfach eine ganz andere Welt, frei von alltäglichen Sorgen, die uns immer wieder plagten.
Ich guckte neidisch auf die heiteren Gesichter um mich herum. Alle waren ähnlich. Man hatte den Eindruck, dass sie alle die gleiche Energie ausstrahlten. Sie funkten auf der gleichen Wellenlänge, die mir leider nicht bekannt war. Nur mein Antlitz machte nicht mit und ließ sich nicht mit diesem Glanz anstecken. Auch ihr Lachen war irgendwie komisch, nicht spontan. Ich fühlte mich in dieser Herde wie ein Versager, aber zugleich wurde ich von vielen Leuten mit tröstlichen Worten aufgemuntert: „Gregor! Gott liebt dich! Kehre um zum Herrn! Gregor, du musst dich ändern!“ Immer wieder bekam ich die gleichen Floskeln zu hören. Wieso sollte ich mich ändern? Was sollte ich überhaupt damit anfangen?
Mein Glaube war offenbar zu schwach, um mich von all diesen Aussagen auf einmal überzeugen zu lassen. Meine Seele wurde von verschiedenen widersprüchlichen Gefühlen gequält. Ich war mal ganz hilflos und versuchte mal, die Freude zu täuschen, und mal war ich vom Hass ergriffen. In solchen Momenten legten sie mir die Hände auf den Kopf und beteten für mich mit Pietät und Ehrfurcht, damit ich von der Kraft des Teufels befreit und unter den Schutz Gottes geführt werden würde. Mit dem Schutz Gottes meinten sie ihre liebevollen Arme.
Besonders die Ältesten der Gemeinde konnten hier brillieren. Sie beteten mit Engelsprachen. Diese Rede war unverständlich und zwar nicht nur für die Leute, sondern auch für den Teufel selbst. Da der Satan nicht wusste, wofür diese Leute beteten, konnte er die Folgen des Gebets nicht verhindern. Dadurch konnte seine Macht zu Fall gebracht werden. Daran glaubten sie zumindest. Sie waren davon sogar felsenfest überzeugt.
Ich glaube, dass viele, die mit diesen übernatürlichen Sprachen beteten, selbst nicht genau wussten, wofür sie beteten. Außer viel Heulen, Jammern, Geplapper und Seufzen konnte ich kaum etwas vernehmen. Das war ein großer Schwarm von Bienen, Ameisen, Ringelnattern, Schakalen… Die Stimmen, die die verblendeten Menschen von sich gaben, konnten nicht von einer einzigen Tierart erzeugt werden. Bei einem so tiefen Gebet schaltete sich das Bewusstsein aus und somit konnten verschiedene komische Dinge passieren. Es folgten die transzendentalen Zustände mit vielen Visionen wie nach einer ordentlichen Dosis Marihuana. Die Leute um mich gerieten in einen spirituellen Gruppenrausch. Solche Zustände kann man nur mit geschlossenen Augen erreichen, sonst funktioniert es nicht.
Nach einem langen Durcheinander des Gebets konnte man wieder vereinzelte Worte in der menschlichen Sprache vernehmen. Am Anfang wurden diese Worte etwas schüchtern und ohne Kontext ausgesprochen. Es sah so aus, als ob die aus diesem Rausch allmählich heraustretenden Leute wieder die menschliche Sprache