Nach den Untersuchungen am Montag teilte mir die Ärztin mit, dass sich der Befund verbesserte. Die Blutwerte sanken nicht mehr. Im Gegenteil. Sie nahmen zu. Ich lächelte, aber verriet ihr nicht, wie es zustande kam. In meinen Gedanken verehrte ich diesen phantasievollen Arzt, der mich aufrichtig über die heilenden Kräfte des Rotweins aufklärte. Der Arzt musste sehr gut wissen, was mich auf die Beine stellen konnte. Offiziell konnte er mir das nicht empfehlen, weil er immer in Begleitung des Personals kam. Er gab es mir nur subtil zu verstehen, aber er tat so, als ob das seine Anordnung gewesen wäre. Er hoffte, dass ich seine verborgene Botschaft begriff, weil er mir direkt in die Augen schaute. Ich machte dann nur einen feinen Gesichtsausdruck, um zu zeigen, dass die Botschaft angekommen war. Ich machte dies aber so, dass es für die anderen unbemerkt blieb. Wir beiden wollten nicht, dass ein Dritter unsere heimliche Kommunikation entdeckte; sonst hätte meine unkonventionelle Kur vereitelt werden können. Der Arzt wollte damit formell nichts zu tun haben. Daher verschlüsselten wir unsere Botschaften.
Nach zwei Wochen in dem Krankenhaus wurde ich zur Rehabilitationskur in der Rehabilitationsklinik Saulgau in der Nähe des Bodensees überwiesen. Dort gab es eine ausgezeichnete medizinische Pflege und leckeres Essen. Ich wohnte in einem luxuriösen Apartment mit Balkon. Als meine Freundin und die Kollegen zu Besuch kamen, badeten wir in dem Bodensee. Ich konnte schon unbegleitet an Krücken gehen und kam selbstständig mit allen Dingen klar. Erst anderthalb Monate nach dem Unfall kam ich nach Hause zurück.
Die Grenzen, die Leben und Tod scheiden, sind unbestimmt und dunkel. Wer kann sagen, wo das eine endet und das andere beginnt?
(Edgar Allan Poe).
Erneute Bekehrung
Die Bewusstseinszustände zwischen Leben und Tod, die ich während des Unfalls erlebte, trugen zu meinem radikalen Umdenken in Bezug auf Religion, Glauben und Gott bei. Ehrlich gesagt ging es mir nicht um den Glauben selbst. Nach all dem, was mir passiert war, wusste ich allzu gut, dass es Gott gab. Ich musste keine großen Anstrengungen unternehmen, um an Ihm zu glauben. Es lag auch nicht an der Überzeugung, die ich über Nacht erlangte. Es handelte sich um die unumstrittene Tatsache, die mir offenbart wurde, und darum, dass ich auf wundersame Weise vor dem unvermeidlichen Tod gerettet wurde. All diese Erfahrungen kamen so geballt und schmerzhaft auf mich zu, dass ich es mit meinem Verstand nicht nachvollziehen konnte. In meinem Bewusstsein wurde Gott zu einer vollendeten und unbestreitbaren Tatsache. Daher wollte ich jetzt mehr über Gott erfahren, um Ihn näher kennenzulernen. Ironischerweise ging mein Wunsch wie von Geisterhand fast sofort in Erfüllung. Die Lehre sollte aber erschütternd sein. Bald tauchten die „Diener Gottes“ auf. Wie sich später herausstellte, hatten sie mit Gott kaum etwas zu tun, eher mit seinem dunklen Abbild. Das waren nämlich die Zeugen Jehovas, mit denen ich schon mal in Berührung kam. Dazu kamen die Pfingstler. Von dieser Gruppe wusste ich hingegen so viel wie nichts.
Die letzten beherrschten schon die Seelen von meinem Schwager und meiner Schwester in Stuttgart. Gerade durch sie wagte die Pfingstbewegung ihre ersten Schritte zu mir. Am Anfang wirkten sie sehr subtil und nüchtern, aber konsequent. Noch nie begegnete ich so freundlichen und gottesfürchtigen Menschen, die sich um die anderen so sehr kümmerten, insbesondere um die Erlösung der Seelen ihrer Nächsten. Sie unterhielten sich mit mir über Gott und zeigten mir verschiedene Bibelstellen, die mich dazu bringen sollten, mich in die Heilige Schrift zu vertiefen. Sie erzählten mir, dass Gott die Macht hatte mich von der Alkoholsucht zu befreien und den Menschen im Allgemeinen bis zur Unkenntlichkeit zu verändern. Allmählich überzeugten sie mich – nicht, weil sie ausgezeichnete Redner waren, sondern weil ich von der fortschreitenden Alkoholsucht befreit werden wollte. Wenn ich hörte, dass mein Glauben mir meine Sucht nehmen konnte, wollte ich diese Chance in Anspruch nehmen. Ich fing an mir das Wissen über ihre Religion anzueignen. In jenem Zeitpunkt hatte ich keine blasse Ahnung davon, dass ich später für ihre angeblich selbstlose und aus reinem Herzen fließende Lehre einen hohen Preis bezahlen musste, weil sie mein Leben für viele Jahre ruinierten! Ich wusste auch nicht, dass die Unterstützung, die man von den Pfingstlern erhielt, mit Selbstlosigkeit gar nichts zu tun hatte. Sie war lediglich eine Illusion, die den Menschen verführen und einlullen sollte.
Nach einem Jahr öffnete ich mich für die Lehre der frisch begegneten Christen. Sie belehrten mich eifrig und erwarteten, dass ich mich in einen neuen Menschen verwandelte. Inzwischen mussten sie einen gefährlichen Konkurrenten loswerden – und zwar die Zeugen Jehovas. Auch sie erhoben die Ansprüche auf meine Seele. Diese zwei Gruppierungen führten einen heimlichen Krieg um das Recht meine Seele zu evangelisieren. Infolgedessen verdrängten die Pfingstler die Zeugen Jehovas und übernahmen die geistliche Kontrolle über mich. Sie waren sehr gut mit der Bibel vertraut, und man konnte mit ihnen endlose Gespräche über Gott führen. Genau das war mir damals besonders wichtig. Am Anfang ahnte ich gar nichts Böses. Sie waren sehr fürsorglich und nahmen mich in eine geistliche Obhut. Und in ihrer Reihe befanden sich meine Familienmitglieder – Schwester Barbara und Schwager Krzysztof. Und die Familie sollte nach meinem Wohl streben, oder? Mit diesen Gedanken im Kopf vertraute ich meinen Verwandten und ihrem neuen Glauben. Das war mein großer Fehler, der tragische Folgen mit sich brachte.
Genesung
Im Dezember 1994 ging ich in die berühmte Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik in Tübingen zum Gehtraining. Das Fachpersonal brachte mir mit professionellen Maßnahmen das richtige Gehen bei. Sonst hätte ich nie richtiges und gesundes Gehen gelernt. Nach dem Unfall mit der Lokomotive wurde ich drei Operationen unterzogen. Die erste fand direkt danach in Ludwigsburg statt. Zwei weitere Eingriffe folgten in Stuttgart im Katharinenhospital. 1996 wurden mir die chirurgischen Metallteilchen herausgenommen. DreiJahrespäter folgte die Hüftoperation. Um die Jahreswende 1999/2000 absolvierte ich noch einmal ein Gehtraining in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Tübingen.
Nach der Hüftoperation im Jahre 1999 erhielt ich als einzige Person auf der Station ein vollautomatisches Bett. Das war für mich ein großer Segen. Nach solch einer schwierigen Operation brauchte ich ständig die Unterstützung einer Krankenschwester. Diese Wunder der Technik halfen mir unglaublich. Ich drückte verschiedene Knöpfe mit der Hand und konnte dadurch die Position meines Körpers zu jedem beliebigen Zeitpunkt regulieren. Eine Sache gab mir dabei zu denken: In demselben Zimmer lag ein alter Deutscher, der die gleiche Operation hinter sich hatte, aber er erhielt nicht so ein Bett. Und ich, ein Pole, wurde so ausgezeichnet. Der Chefkrankenpfleger in unserer Station sagte mir, dass das Krankenhaus nur ein paar hochmoderne Betten dieser Art erhielt. Es gab Stationen, die gar keines bekamen. Auf unserer Station gab es mehrere Patienten in einem ähnlichen Zustand, aber gerade ich war es, der dieses Bett bekam. Ein bedeutendes Lächeln schwebte dem Krankenpfleger bei diesen Worten um seinen Mund. Er machte deutlich, dass das eine Auszeichnung für mich war. Ich bedanke mich beim Gott für sein großzügiges Geschenk und bei dem Krankhauspersonal, das sich mir gegenüber wohlwollend verhielt.
Zwei Wochen nach der Hüftoperation wurde ich zu der schon erwähnten Klinik in Tübingen für Rehabilitation überwiesen. Nach intensiven Übungen konnte ich meine Knie endlich wieder mühelos beugen. In Deutschland haben die Rehabilitationskliniken Cafés. An diesen Orten ist Alkohol allgemein erhältlich. In meinem Fall war es kein guter Umstand. Ich sah mein Alkoholproblem nun schon ganz klar. Seit dem Unfall erklärte mein Gewissen der Alkoholsucht einen regelrechten Krieg. Dieser harte Krieg spielte sich leider in mir selbst und zulasten von mir ab. Der Heimkrieg, der in mir tobte, war tatsächlich der tragischste Sturm, der in meinem Leben losbrach. Mein Gewissen machte mir nicht nur die Vorwürfe, dass ich trank. Es griff mich regelrecht an. Am Anfang wurde mir nicht klar, dass sich die spirituelle Welt und zwar ihre zwei wichtigsten Pfeiler – das Gute und das Böse – in mein Alkoholproblem einmischten. Das passierte kurz nach dem Unfall im Jahr 1994. Meine Auseinandersetzung mit mir selbst wurde zum Interventionskrieg in der spirituellen Welt.
Ich war