Am Morgen kam der Stationsarzt zu mir und sagte, dass für das eigenmächtige Verlassen der Klinik und die Rückkehr unter Alkoholeinfluss sogar mit der polizeilichen Begleitung die stärksten Strafmaßnahmen drohen, inklusive der sofortigen Kappung der Behandlungsfinanzierung. Obwohl ich noch nicht ganz nüchtern war, begriff ich genau, wie sehr ich es übertrieben hatte. Der Spaß hörte für mich auf. Ich antwortete dem Arzt ohne Zögern: „Ich fühlte mich hier so einsam, dass ich das Krankenhaus verlassen musste, sonst wäre ich ausgeflippt. Um das zu vermeiden, musste ich mich etwas amüsieren.“ Der Arzt schaute mich kurz an, als ob er mein Problem richtig verstanden hätte und erwiderte: „Ja. Ich verstehe Sie. Aber das ist nicht Mallorca. Ich spreche darüber noch mit dem Chefarzt.“
Kurz darauf kam er mit dem Chefarzt. Der Professor war eine bekannte Persönlichkeit in der deutschen Medizin. Ich erzählte kurz aber ausdrücklich die Geschichte über meinen Trübsinn, der mich zu einer total verrückten Entscheidung führte, die ich kaum beeinflussen konnte. Ich fügte hinzu, dass ich erst jetzt darüber im Klaren war, was tatsächlich geschehen war. Früher sei es mir gar nicht in den Sinn gekommen. Als ich mich über meine Traurigkeit beschwerte, entschuldigte ich mich wahrscheinlich gar nicht für meinen Unfug, weil ich mich für das Opfer meines eigenen Zustands hielt. Meine Enthüllungen waren beinahe unverschämt. Ich zeigte überhaupt keine Reue, aber erreichte trotzdem das erwünschte Ziel. Auch wenn ich Reue ausgedrückt und mich für mein Verhalten demütig entschuldigt hätte, hätte ich das, was ich angestellt hatte, nicht wiedergutmachen können. Der Professor kam zu mir mit derart unfreundlichem Gesichtsausdrück, als ob die Sache für ihn schon erledigt gewesen wäre. Nach meiner kurzen Rede schaute er mir kurz in die Augen und ging raus, ohne ein Wort zu sagen. Im Endeffekt wurde ich gar nicht bestraft.
Erst um die Mittagszeit, als ich schon ordentlich ausgenüchtert war, dämmerte es mir, wie viel Glück ich hatte und wie viel ich hätte verlieren können. Meine Kollegen aus dem Krankenhaus erzählten mir von ähnlichen Fällen. Die Kerle, die zu viel Alkohol tranken, hatten nicht so viel Glück wie ich. Noch einmal verschonte mich Gott vor einer nicht geringen Tragödie. Ich merkte, dass ich bestraft wurde, aber gleichzeitig, dass mich eine bestimmte Kraft vor dem endgültigen Untergang schützte. Ich wusste einfach nicht, worum es hier ging.
Zum zweiten Gehtraining nach der Hüftoperation, das für Dezember 1999 geplant war, kam ich ein paar Tage zu spät an. Ich trank wie gewöhnlich, und es fehlte mir die Kraft, mich aus dem Säuferwahn loszureißen und pünktlich in der Klinik eintreffen. In Deutschland ist Ordnung und Disziplin von großer Bedeutung. Die Termine werden hier zwingend eingehalten. Da sich meine Seele in jener Zeit in einem elenden Zustand befand, passte ich mich diesen Regeln immer wieder nicht an. Ich konnte nicht ertragen, was ich selbst anstellte. Allerdings führte diese Frustration nicht zu irgendeiner Verhaltensänderung von mir. Ich schämte mich dafür und versuchte, aus jeder Not herauszukommen, in die ich von meinem paarhufigen Teufel getrieben wurde. Bei mir gehörte es schon zum Alltag, dass ich versuchte, alle Schäden, die ich anrichtete, nachzubessern, da ich zu einem Sklaven meiner selbst wurde.
Ich traf in dem Krankenhaus kurz vor Weihnachten ein und dachte mir: Würden sie mich jetzt einweisen, wäre die Klinik für mich ein Ort, der vor den Alkohol-Versuchungen schützen könnte, die zu dieser Jahreszeit besonders stark waren. Der Arzt sagte mir aber, dass ich mich im nächsten Jahr melden sollte, um einen neuen Termin zu vereinbaren. Da ich die frühere Einladung der Klinik ignorierte, wollte das Personal gar nicht mit mir sprechen. Ich wollte aber nicht nachgeben, und während des Gesprächs mit dem Arzt in einem großen Flur schmachtete ich nach meinem Gott, dass Er mir helfe. Genau dann passierte etwas Überraschendes. Der Arzt sagte, dass er meinen Fall nun mit jemandem besprechen würde. Während ich auf den Mediziner wartete, betete ich eifrig. Kurz danach kam er zurück und veranlasste, dass die Krankenschwester mich auf eine bestimmte Station führte. Er sah mich verstohlen an und gab dadurch zu verstehen, dass ich aufgenommen wurde. Ich war überglücklich und lobte meinen Gott von ganzem Herzen. Ich bedankte mich herzlich bei dem Arzt und sagte Ihm: „Gott segne Sie.“ Er schaute mir über die Schulter, lächelte und machte sich an seine Arbeit. Ich wiederum stand noch eine Weile da und erlebte die Macht Gottes, weil ich mir sicher war, dass Er mir half. Dann kam eine Krankenschwester, die sich um mich kümmerte.
Dieser Arzt war ein Paradebeispiel von einem edlen, klugen, ansprechbaren und gelassenen Typ. Solche Menschen waren eine Klasse für sich. Ich beneidete sie deswegen, weil ich wusste, dass ich wegen meiner Alkoholsucht im Vergleich zu ihnen ein richtiger Versager war. Manchmal beobachtete ich die Leute und konnte schon aus ihren Gesichtern lesen, dass sie zumindest keine Schwierigkeiten mit Alkohol hatten. Sie waren für mich ein Musterbeispiel des Lebens, aber bislang folgte ich diesem Beispiel nur in meinen Träumen. Ich hatte nicht ausreichend viel Kraft, um ihr Verhalten nachzuahmen.
In dieser Klinik konnte ich dadurch die Jahrhundertwende erleben, und zwar ganz trocken, obwohl jeder Patient zu diesem Anlass eine Flasche Sekt erhielt. Ich entschied mich dafür, auf dieses Geschenk zu verzichten, und ich war nicht der Einzige. Ich begegnete hier einem neuen Kollegen, Günter. Er war ein Abstinenzler und stellte mich als tolles Beispiel dar. Er unterstützte mich moralisch und ermunterte mich dazu, in seine Fußstapfen zu treten und mit dem Trinken ein für alle Mal aufzuhören.
Im Laufe des Aufenthalts in der Klinik wünschte ich mir die Begleitung eines Geistlichen, damit ich mich mit jemandem über Gott unterhalten konnte. Da kam unerwartet ein katholischer Priester. Ich hoffte aber, mit einem evangelischen Pastor zu sprechen, weil mich der katholische Glaube in jener Zeit nicht besonders anging. Die erste Frage, die ich ihm stellte war: „Ist die Mutter Gottes auch Gott?“ Der deutsche Geistliche berührte mich mit dem Finger und erwiderte mit der Frage: „Ist es wirklich so wichtig für Sie?“ Nach einigem Nachdenken antwortete ich: „Es gibt tatsächlich wichtigere Dinge.“ Der Priester sagte dazu ruhig: „Gott sei Dank. Sonst müssten wir uns unnötig streiten.“
Er war eine interessante Persönlichkeit. Ich versuchte in einen Religionskrieg gegen ihn einzutreten. Diesen Versuch vereitelte er mit einer Gegenfrage. Er erwarb sich dadurch meine Gunst, weil ich in ihm einen intelligenten Menschen und einen guten Diplomaten erkannte. Nach vielen Gesprächen mit diesem deutschen Priester wurde mir klar, dass ich den Glauben nicht wechseln musste, um Gott zu finden. Der Katholizismus ist doch für alle. Zu meinem Erstaunen merkte ich, dass ich mit diesem Priester über weitaus mehr Themen und Glaubenssätze einig war als mit den Pfingstlern. Darüber hinaus lehnte sich mein Gewissen immer öfter gegen die Lehren der Pfingstbewegung auf. Wenn ich mit dem katholischen Geistlichen sprach, war mein Gewissen ganz ruhig und sogar glücklich.
Nach dem Unfall erhielt ich keinen Schadenersatz von der Deutschen Bahn, weil ihr Anwalt während der Gerichtsverhandlung feststellte, dass ich Selbstmord begehen wollte. Ich schien also Pech zu haben, weil ich bei einem Suizidversuch scheiterte. Ich war sehr enttäuscht, konnte aber kaum etwas dagegen tun. Mein Anwalt war so hoffnungslos, dass er nicht wusste, was er im Laufe