Noch vor seiner Auswanderung nach Kanada begegnete ich ihm ein paar Mal in Stuttgart, aber diese Begegnungen waren für ihn nicht angenehm. Eines Tages auf einer polnischen Party, als ich schon einen in der Krone hatte, fragte ich Jurek höflich, ob er mir ein Bier spendieren würde. Er erwiderte mit einem herzhaften Lächeln, dass das gar kein Problem sei. Diesen Wunsch widerholte ich noch zweimal. Nachdem er mir drei Bier ausgegeben hatte und ich ihn zum vierten Mal fragte, zögerte er kurz. Ich ließ ihn aber nicht zu lange überlegen und unterbrach sein Grübeln mit einem kräftigen Faustschlag in seinen blassen Schädel. Der Hieb war so mächtig, dass er einige Meter entfernt landete. Ich holte meinen „Gesprächsbegleiter“ buchstäblich auf den Boden. Erst meine Freundin und andere Party-Besucher retteten ihn von einem noch größeren Prügel. Meine Partnerin kam auf mich zu und gab Jurek Bescheid, dass er so bald wie möglich von der Party abhauen sollte. Ich weiß, dass er mich damals wie die Pest mied. Und er war nicht die Ausnahme. Zu dieser Zeit nahm ich auf Menschen keine Rücksicht.
Zum letzten Mal begegnete ich Jurek, als er bei einer roten Ampel vor der Kreuzung im Auto saß. Ich wollte mitfahren, aber die Ampel wurde gerade rot und versperrte mir den Weg. Als er mich sah, war er zutiefst erschrocken. Ich griff schon fast nach der Klinke, aber das grüne Ampellicht half ihm aus der Bedrängnis. Er fuhr mit quietschenden Reifen ab, und ich versuchte absichtlich einen sehr enttäuschten Eindruck zu machen, da er mir entkam. Es ging mir darum ihn zutiefst zu beeindrucken und seine Befürchtungen in Bezug auf mich zu bestätigen. Sicherlich schaute er sich immer vorsichtig um und prüfte mit seinen arglistigen Augen, ob ich mich nicht in der Nähe befand.
Politisches Asyl in den USA
Ich wollte nicht dauerhaft in Deutschland bleiben. Das sollte nur ein Transitland für mich sein. Mein endgültiges Ziel war Kanada. Ich nahm den Kontakt mit dem polnischen Auswanderungsbüro in München (Polish American Immigration & Relief Committee Inc.) auf, weil ich nach einer Anlaufstelle suchte, die mich fachlich unterstützen konnte. Mir wurde gesagt, dass die Chancen für mich besser stünden, wenn ich mich für eine Auswanderung in die USA entscheiden würde, und dass sie meinen Fall übernehmen könnten, wenn ich mit solcher Lösung einverstanden wäre. Ich stellte ihr Knowhow gar nicht in Frage und entschied mich kurzerhand dafür. Dieser Vorschlag war auch deshalb günstig, weil ich die Unterstützung des von der US-Regierung ernannten Sponsors bekommen konnte, sollte ich es erfolgreich nach Übersee schaffen. In Praxis hieß das, dass ich einen Mentor bekommen würde, und dass die Amerikaner alle meine Lebenskosten im Laufe der Anpassungszeit inklusive Reisekosten finanzieren würden. Eine Voraussetzung war das Vorstellungsgespräch mit einem Vertreter der amerikanischen Behörden erfolgreich zu absolvieren. Die Erfolgsquote lag bei höchstens 20%, weil sich die Amerikaner nur für die besten Kandidaten entschieden.
Erst einmal musste ich mir sehr viel Mühe geben, um zu diesem Interview überhaupt zugelassen zu werden. Sie lasen nur die Geeignetsten aus und ließen eine ganze Menge von Leuten durchfallen, die lediglich den amerikanischen Wohlstand genießen wollten. So wurde Andrzej W, mein Kollege, als zu schwach ausgesiebt. Dass man aber zum Gespräch eingeladen wurde, war nicht ausschlaggebend. Man konnte auch beim Interview scheitern. Zum Beispiel schaffte es Filip aus Hamburg nicht, obwohl er die englische Sprache hervorragend beherrschte. Viele versuchten es. Viele hatten Hoffnung auf Erfolg. Am Ende des Tages erhielten nur wenige ein Visum.
Diejenigen, die schon einen privaten Sponsor in den USA besaßen, hatten es viel einfacher. Sie erhielten viel schneller ein Visum und mussten sich darum nicht allzu sehr bemühen. Die Sponsoren gewährleisteten ihnen vielerlei Hilfe vor Ort bis zum Zeitpunkt, zu dem der Einwanderer schon auf eigenen Füßen stand. In der Regel spielten Familie, Verwandte oder Freunde diese Rolle. Ich hatte niemanden in Übersee. Um dorthin zu gelangen, musste ich also einen Regierungssponsor erhalten. Das war gar kein einfaches Spiel. Daraufhin eignete ich mir nicht nur Allgemeinwissen über die USA, sondern auch die amerikanische Art zu denken an. Bei dem Vorstellungsgespräch wollte ich zeigen, dass ich mich mit dem amerikanischen Beamten locker verständigen, aber meinen Gesprächspartner auch davon überzeugen kann, dass Amerika davon profitieren würde, wenn ich ein Einwanderungsvisum bekäme.
Nach einer langen Korrespondenz mit dem polnischen Auswanderungsbüro in München (Polish American Immigration & Relief Committee Inc.), das mich am Anfang des Bewerbungsverfahrens vor den Vertretern der amerikanischen Behörden repräsentierte, wurde ich endlich zum Interview ins Generalkonsulat von USA in Frankfurt am Main eingeladen. Das war spät im Herbst 1987. Nach mehreren Stunden des Wartens war ich dran. Ein lächelnder amerikanischer Beamter und eine Dolmetscherin begrüßten mich in dem Zimmer. Um Fallen zu vermeiden, die sich in potenziellen Fragen verbergen konnten, fing ich von mir selbst aus an zu sprechen. Meine Thesen und Erzählungen untermauerte ich mit historischen Fakten. Der Beamte hörte mir mit großer Begeisterung zu und stellte nur wenige Fragen. Er war sichtlich zufrieden, weil solche aktiven und vor Energie strahlenden Typen seinen Anforderungen angeblich genau entsprachen. Die Beamten des Konsulats hatten fundierte Kenntnisse in Psychologie und Allgemeinwissen. Sie fragen nur danach, was sie tatsächlich erfahren mochten. Sie verschwendeten ihre kostbare Zeit nicht.
Der Amerikaner stellte mir nicht nur förmliche, einfache Fragen. Es gab auch einige logische Herausforderungen und Fangfragen, die meine tatsächliche Lebenseinstellung verraten lassen sollten. Die letzte Frage lautete: „Was würdest du machen, wenn du es in die USA schaffen würdest?“ Ich antwortete: „Ich würde mein Bestes tun, um die Macht der Vereinigten Staaten zu stärken und mich selbst dadurch zu entwickeln“. Der Beamte schaute mich kurz an. Er war sichtlich zufrieden und sagte einfach „OK“.
Ich hatte ein gutes Vorgefühl, aber erst nach zwei Wochen erhielt ich eine Nachricht, dass die Vereinigten Staaten mir ein politisches Asyl erteilten und dass ich einen Regierungssponsor bekommen würde. Ich war überglücklich, weil so viele aus diesem Wettkampf ausschieden, und ich schaffte es. Was für ein Erfolg! Ich musste jetzt auf das amerikanische Visum warten und ließ mein politisches Asyl in Deutschland dementsprechend aufheben.
Auf das amerikanische Visum musste ich gut zwei Jahre warten. Inzwischen fand ich einen Job, eine Wohnung und – zu guter Letzt – erhielt ich das Aufenthaltsrecht und das Recht auf freizügiges Reisen innerhalb Deutschlands. Bis zu diesem Zeitpunkt musste ich, wenn ich mich außerhalb von Stuttgart bewegen wollte, eine entsprechende Genehmigung holen. Meine Lage in diesem Land verbesserte sich derart, dass es eigentlich nicht mehr erforderlich war aus diesem Land auszuwandern, um meinen Lebensstandard zu erhöhen. Mein Enthusiasmus für den Umzug nach Übersee ließ deutlich nach, weil ich inzwischen viele negative Erfahrungsberichte gehört hatte. Die Leute kamen von Amerika nach Deutschland zurück und sagten, dass sie hierzulande am besten aufgehoben wären. Sie waren überrascht zu erfahren, dass ich nach Amerika wollte, wenn es hier doch ganz gut lief. Sie erzählten, dass dort kaum jemand Glück hatte, weil Amerika ganz anders als Europa funktionierte.
Die ersehnte Nachricht, dass ich endlich ein Auswanderungsvisum erhielt, kam unerwartet im August 1989, und zwar gerade während meines ersten Besuchs in Polen. Ich hatte nicht viel Zeit zum Nachdenken. Der Abflug von Frankfurt am Main nach New York war für den 30. September geplant.
Zwischen dem Vorstellungsgespräch in dem Generalkonsulat von den USA bis zum Zeitpunkt, zu dem ich ein Visum erhielt, verliefen fast zwei Jahre. In dieser Zeit veränderte sich ganz viel, und meine leidenschaftlichen Träume schwanden allmählich. Sie nahmen nicht mehr den ersten Platz ein. In Deutschland hatte ich dann einen Job und dadurch auch ein Aufenthaltsrecht. Amerika lud mich etwas zu spät ein. Zwei Jahre früher hätte ich mich darauf ohne langes Federlesen eingelassen, weil Amerika zu jener Zeit mein größter Traum war. Auch politisch veränderte sich viel. Polen erlangte seine Unabhängigkeit im Jahre 1989 wieder, und man konnte die Heimat ohne Umstände besuchen. Von Deutschland nach Polen war es ein Katzensprung im Vergleich zu dem Weg, den man von den USA zurücklegen müsste. Sollte ich jetzt nach Übersee fliegen, um wieder ganz von vorne anzufangen? War das überhaupt sinnvoll?
Um mich selbst endgültig zu überzeugen, kaufte ich eine große Flasche Wodka und trank sie in der Gesellschaft