Ich stand bewegungslos da und schaute den abfahrenden Zug ohne Bedauern an. Mir lief es ganz kalt den Rücken hinunter. Endlich ging ich ohne Lampe an den Schacht. Ich fand diese erst auf dem Bahnhof. Sie lag in dem Abteil. Diese Schicht brachte ich als letzter Arbeiter hinter mich, aber ich war froh, dass ich mich überhaupt aus dieser Situation befreien konnte.
Die zweite gefährliche Erfahrung, die ich machte, hatte auch etwas mit der Grubenbahn zu tun, und zwar mit ihrer Treibkraft, d. h. mit dem Strom. Ich und mein Kollege bekamen die Aufgabe, die Waggons unter der elektrischen Traktion zu reinigen. Unser Steiger sollte am Anfang die Spannung abschalten. Er erklärte uns, dass der Strom schon aus war, und dass wir uns ans Werk machen konnten. Als wir schon in den Waggons waren, war unser Steiger schon weg, weil er auch die Arbeiten von anderen Bergmännern aus unserer Schicht aufsehen musste.
Im Laufe der Arbeit zog ich den Schutzhelm aus und wollte die Traktion mit dem Kopf berühren. Ich weiß nicht wieso ich auf diese Idee kam, aber ich wollte dadurch sicherstellen, dass in der Traktion kein Strom floss. Etwas brachte mich aber von dieser blöden Idee ab. Vielleicht war das irgendeine innere Beunruhigung oder die Angst vor dem Ungewissen und Unbekannten. Einen Moment später berührte ich die Traktion zufällig mit dem Arm. Plötzlich bekam ich einen heftigen Krampf im ganzen Körper. Mir gelang es, mich mit größter Mühe zum Boden herabzuziehen. Voller Panik versuchte ich, mich auf allen Vieren möglichst weit von dem Waggon zu entfernen. Ich war fast gelähmt und konnte mich nicht aufrichten. Als der Kollege mich sah, brach er in Gelächter aus, weil er sicherlich glaubte, dass ich gut gelaunt war und versuchte, ihn etwas zu amüsieren. Nach einer Weile hielt ich an und flüsterte unter enormer Anstrengung. „Verdammt lachst du mich jetzt aus? Die Fraktion ist unter Strom! Ich erhielt grad einen Stromschlag“. Der Kollege erstarrte mit seinem Lächeln und erblasste.
Als ich mich am nächsten Tag bei dem Amt für Arbeitsschutz darüber beschwerte, dass ich einen Stromschlag erhielt, wurde ich ausgelacht. Niemand wollte mir glauben. Wieso konnte das passieren, wenn der Strom aus war? Wenn ich erklärte, dass der Steiger gewiss einen falschen Sektor ausschaltete, hörte ich, dass er doch keinen Fehler begehen konnte, und ich eine allzu lebhafte Fantasie hatte. Ich fühlte, dass ich sehr unfair behandelt wurde, aber in den kommunistischen Zeiten war solch ein Verhalten an der Tagesordnung.
Ich wusste aber, dass das ein richtiger Ernstfall war, einen Gleichstromschlag – diese Art vom Strom floss bei uns unten in dem Bergwerk – zu bekommen. Ich wollte mich unbedingt vollständig untersuchen lassen um sicherzustellen, dass meine körperliche und psychische Gesundheit in keiner Weise beschädigt wurde. Die Ergebnisse der Untersuchungen gaben keinen Grund zur Sorge. Im Gegenteil. Es bestätigte sich, dass ich einen hohen IQ hatte. Ich erfuhr davon ganz zufällig von einem der Steiger, der mir deswegen eine Zeit lang viele Komplimente machte. Dass ich beim Intelligenztest sehr gut abschnitt, wurde mir offiziell nicht bekannt gegeben. Ich erfuhr nur ganz allgemein, dass ich gesund war. Anscheinend wollten sie diese Tatsache nicht publik machen oder bekamen Angst vor mir, weil sie in Erinnerung hatten, dass sie mich am Anfang ignoriert hatten. Sie versuchten, die ganze Geschichte zu vertuschen, damit der Steiger seinen Job für nicht für diesen Fehler verlor.
Ich hatte vor, eine förmliche Beschwerde direkt bei dem Ministerium für Bergbau einzureichen und mitzuteilen, dass mich das betriebliche Amt für Arbeitsschutz unfair behandelte. Ich wusste aber auch, was dieses Schreiben für den Steiger bedeuten konnte. Letztendlich verzichtete ich darauf. Allerdings ließ ich den Steiger und den betrieblichen Sicherheitsdienst eine Zeit lang im Ungewissen. Ich gab nur deshalb endgültig auf, weil der Steiger mich in jedem Moment seine Reue spüren ließ und ich schließlich Mitleid mit ihm bekam.
Etwas später bei der Arbeit wiederholte sich die Verletzung an meinem Meniskus, die ich bereits in der Schule beim Fußballspiel erlitten hatte. Daraufhin konnte ich mein Bein gar nicht mehr bewegen. Und derselbe Steiger, ein Profi in puncto Ausschaltung der Traktion, kümmerte sich um mich wie ein Vater. Er fuhr mit mir nach oben, half mir ein Bad zu nehmen und sorgte persönlich dafür, dass ich umgehend ins Krankenhaus abtransportiert wurde. Dort wurde ich einer Operation unterzogen. Ich muss zugeben, dass er dafür einen Orden verdiente. Ich konnte gegen ihn keinen Groll hegen; er war doch nur ein Mensch.
Karateka
Ich lernte Romek Anfang 1981 in dem Arbeitshotel der Steinkohlegrube in Katowice, in dem Viertel von Załęże, kennen. Wir teilten uns ein Zimmer. Er beeindruckte mich nachhaltig. Er war ein intelligenter, weltgewandter und kultivierter Mann. Wir befreundeten uns schnell. Er verfügte über umfassendes Wissen zu verschieden Themen, was auch meine Aufmerksamkeit erregte. Ich glaubte, dass es für mich Segen war, einen Menschen wie Romek kennenlernen zu können – einen Segen, welchen ich lange erwartete. Romek war auch ein toller Gesprächspartner. Auf jede Frage ging er noch vollständiger ein, als ich es erwartete. Er redete kein dummes Zeug und log nicht, wie es die anderen Hotelgäste wie üblich taten. Nein. Er war ein freier Redner von höchstem Können. Wir hörten ihn mit großer Begeisterung. Er war ein Fachberater und konnte jede Frage klug beantworten – auch zu einem Thema, zu dem er kaum etwas wusste. Seine Wissenslücken deckte er geschickt mit sehr ausgeklügelter Mimik und Gestik. Er konnte sehr intelligente Gesichtsausdrücke machen. Er machte einen Eindruck eines allwissenden Menschen, der manchmal einfach nicht alles preisgeben mochte. In solchen Momenten gab er zu verstehen, dass er etwas mehr verraten konnte, sobald ihm jemand Wodka spendierte. Er spielte hervorragend Akkordeon, Gitarre und Klavier. Er war einfach die Seele der Gesellschaft. Er beherrschte mehrere Fremdsprachen und war ein ausgezeichneter Karatemeister – er besaß den schwarzen Gürtel, den ersten Dan.
Zu dieser Zeit interessierte ich mich nicht nur für diese japanische Kampfkunst, sondern auch für Geschichte und Philosophie der Samurai. Daher war Romek für mich ein Geschenk des Himmels. Er zeigte mir einige tödlich gefährlichen Tricks dieser japanischen Kampfkunst, die ich zwar nie wieder wiederholte, aber sie blieben mir tief in Erinnerung. Drei Jahre später, bei einem harmlosen Streit auf einer Alkohol-Party, brachte ich mein Gegenüber beinahe um, obwohl er viel stärker als ich war. Er geriet in Panik. Komischerweise hatte ich dann gar keine Ahnung, dass ich die Block-Techniken der Samurai anwandte, als ich mich mit diesem Mann auseinandersetzte. Das war automatisch und unkontrolliert. Dieses unbewusste Handeln verwunderte mich und versetzte mich in Angst und Schrecken. Der Arme setzte sich auf den Kopf und zeigte mit seinen Beinen eine berühmte Geste der Solidarität und zwar das „Victory-Zeichen“. Die Gesellschaft auf der Party war entsetzt. Ich selbst erschrak ein wenig, als ich die Folgen meines Verhaltens sah. Einer der Kollegen, die mit mir dabei waren, sagte zu mir „Was machst du denn, Mann? Du bringst den Kerl um!“ Ich fragte mich mit Entsetzen, wer ich eigentlich war? Warum kam ich mit dieser Situation so gut klar? Wieso konnte sowas passieren? Ich verhielt mich wie ein geübter Kenner der Kampfkunst, und ich war es gar nicht! Das zeigt, welchen Vorsprung eine Person, die etwas über Kampfkunst weiß, (so wenig es sein mag) einer Person gegenüber hat die lediglich starke Muskel hat. Ich ließ Romek meinen Karatetrainer in dem Spartakus Sportverein kennenlernen, wo ich in meiner Freizeit ab und zu trainierte. Romek stellte fest, dass mein Coach in dieser Kampfkunst noch ganz viel zu lernen hatte. Er musste immer wieder seine technischen Fehler korrigieren.
Ich zerbrach mir den Kopf, wieso solch ein begabter und intelligenter Mann wie Romek in irgendeinem Arbeitshotel bei der Kohlegrube pennte? Solch ein kluger und intelligenter Typ wie er war hier sonst kaum zu treffen. Für Romek war es aber gar nicht wichtig, eine Menge von gut ausgebildeten Gesprächspartnern zu finden. Sein Ziel war, eine aufmerksame Zuhörerschaft bei sich zu haben, die ihm für seine Geschichten und Akkordeonspiel ohne Wenn und Aber den Alkohol spendierte. Man konnte davon ausgehen, dass unser neuer Kamerad offensichtlich Probleme mit Alkohol hatte.
Als ich Romek kennenlernte, war er 36, und hatte schon eine ganz interessante Lebensgeschichte hinter sich. Er war schon mal im Knast, lernte hervorragend Kassiber zu sprechen und verkehrte in der uninteressanten Unterwelt. Er pflegte zwar gute Kontakte mit diesem Milieu, aber sie bekamen ihm letzten Endes übel. Allerdings lernte er keine Lektion aus seinen peinlichen Erfahrungen. Er war nicht in der Lage, etwas zu begreifen und zur Vernunft zu kommen. Er wiederholte immer die gleichen Fehler, und seine Alkoholsucht trug dazu wesentlich bei. Sie verschleierte ihm die Wahrnehmung der Realität. Sie ließ zu, dass