Affektivität und Mehrsprachigkeit. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000935
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gibt und wie diese gegenüber dem affektiv hochbesetzten Monolingualismus positioniert sind. Diese nicht zuletzt politische Dimension literarischer Arbeit an der Sprache analysiert Till Dembeck am Beispiel des Zürcher Dada. In historischer Perspektive stellt er die künstlerische Auseinandersetzung mit der Muttersprachensemantik in den Gedichten von Richard HuelsenbeckHuelsenbeck, Richard, Marcel JancoJanco, Marcel und Tristan TzaraTzara, Tristan sowie Hugo BallBall, Hugo in Beziehung zu den epochemachenden linguistischen Theoremen Ferdinand de SaussuresSaussure, Ferdinand de. Dembeck arbeitet minutiös heraus, dass zwischen den Sprachpolitiken der Dadaisten ebenso zu unterscheiden ist wie zwischen Saussures originalen Überlegungen und der späteren, monolingual ausgerichteten langue-Linguistik. Er weist damit nicht nur auf unbekannte und unerwartete Berührungspunkte zwischen diesen beiden wirkmächtigen Sprachexperimenten hin, sondern zeigt auch, was eine Kulturpolitik des Affekts auszeichnen könnte.

      Anhand lyrischer Texte der sogenannten Bukowiner Literatur untersucht Jürgen Brokoff die Bedeutung historisch-politischer und kultureller Konstellationen für eine Poetik der Mehrsprachigkeit. Im Zentrum seines Beitrags stehen Gedichte von Paul CelanCelan, Paul und Rose AusländerAusländer, Rose, deren affektive Dimensionen angesichts der Erfahrung der Shoah im Spannungsfeld von Verständigung und Entzweiung, Zweisprachigkeit und Einmaligkeit der Dichtung verortet werden. Mit vergleichenden Seitenblicken auf den Sprachkritiker Fritz MauthnerMauthner, Fritz, den Lyriker Oskar PastiorPastior, Oskar und die Autorin Herta MüllerMüller, Herta zeigt Brokoff, dass Überlagerungen, Konkurrenzen und Verflechtungen mehrerer Sprachen ein ebenso konflikthaftes wie produktives Potential zu entfalten vermögen. Die Ambivalenzen der Mehrsprachigkeit im Werk Herta Müllers arbeitet Marion Acker heraus. Die Sprachkritik und das fundamentale Misstrauen gegenüber der Repräsentationsfunktion der Sprache, das sich in Müllers Texten artikuliert, verbindet sie mit den Ansätzen der affect studies. Ausgehend von der Beobachtung, dass bei Müller spezifische autofiktionale Versatzstücke, Szenen und dicht beschriebene zeit-räumliche Arrangements textübergreifend ihr gesamtes Werk charakterisieren, untersucht Ackers Beitrag die affektive Wirkung dieser sich wiederholenden Re-Präsentation und die Rolle, die sie in MüllersMüller, Herta literarischer Verhandlung von Zugehörigkeit und insbesondere Nicht-Zugehörigkeit spielt. Demgegenüber setzt Claudia Hillebrandt mit ihrer emotionswissenschaftlichen Analyse eines Loop-Gedichts Rike SchefflersScheffler, Rike, dessen Performance die elektronische Bearbeitung der Stimme involviert, einen anderen Akzent: Zwischen Sprache und Emotionen analytisch zu trennen, sei für die emotionswissenschaftliche Erforschung von Literatur unerlässlich. Entsprechend schlüsselt Hillebrandt Schefflers Gedicht in ihrer Interpretation exemplarisch nach verschiedenen Verfahren der literarischen Präsentation von Emotionen auf. Damit formuliert sie nicht nur wichtige Rückfragen an die Mehrsprachigkeitsphilologie, sondern schlägt auch ein differenziertes Modell für die emotionswissenschaftliche Untersuchung von Lyrik vor.

      Wenn gerade anhand literarischer Mehrsprachigkeit besonders deutlich wird, dass Affekt und Sprache nicht voneinander getrennt werden können, dass sie sich vielmehr auf komplexe Weise bedingen und ineinandergreifen, wie die Beiträge der ersten Sektion unter Beweis stellen, hat das wichtige Implikationen für die Theoretisierung von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Ob sich die literarische Artikulation von Zugehörigkeit dabei über kulturelle Schreibpraktiken oder Schriftbildtraditionen, in der literarischen Gestaltung urbaner Räume oder in der Verwendung einer um Drastik bemühten Sprache ausdrückt – die literarische Artikulation von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit vollzieht sich notwendigerweise in der Verbindung von Affekt und Sprache.

      Den auf diese Dynamiken der Zugehörigkeit bezogenen, zweiten Themenschwerpunkt unseres Bandes eröffnet Robert Walter-Jochum. Sein Beitrag analysiert eine markante affektive Form des Sprechens, nämlich die Hassrede. In Feridun ZaimoglusZaimoglu, Feridun frühen Texten erkennt Walter-Jochum nicht nur eine produktive Form der Aneignung von fremdenfeindlichem und rassistischem hate speech, sondern auch eine Form der Subjektbildung, für die der Affekt des Hasses geradezu konstitutiv ist. Indem er Zaimoglus Texte in den Kontext der Debatten um den Begriff der ‚postmigrantischen Gesellschaft‘ rückt, leistet er auch einen theoretischen Beitrag zur sozialen Dimension der Affektivität der Literatur.

      Sandra Vlasta untersucht in ihrem Beitrag über Tomer GardisGardi, Tomer Roman broken german, der jüngsten Publikation, die in diesem Band behandelt wird, eine Form der literarischen Mehrsprachigkeit, die in ihrem bereits titelgebenden Bruch mit dem Standarddeutsch einige Ähnlichkeiten zu ZaimoglusZaimoglu, Feridun frühen Texten aufweist. Vlasta zeigt, wie die auf mehreren Ebenen thematisierte Mehrsprachigkeit in Gardis Text emotionale Verbindungen schafft. Sie arbeitet damit einen Aspekt des Romans heraus, der Zaimoglus’ Sprachexperimenten durchaus entgegensteht: Denn bei Gardi werden urbane Nicht-Orte, wie Call Shops oder Internetcafés, in ihrer Mehrsprachigkeit zu Orten empathischer Begegnung. Im Unterschied zu individualistischen Ansätzen der Emotionsforschung hält Vlasta fest, dass broken german damit die Möglichkeit eröffnet, Gefühle der Zugehörigkeit über kulturelle und sprachliche Differenzen hinweg zu teilen.

      Am Beispiel von Emine Sevgi ÖzdamarÖzdamar, Emine Sevgi, Rafik SchamiSchami, Rafik und Yoko TawadaTawada, Yoko geht Monika Schmitz-Emans der Frage nach dem Zusammenhang von Affektivität und (Fremd-)Schriftlichkeit nach und rückt somit eine spezifische Dimension von Sprache in den Blick, der mehrsprachige Literatur auffällig viel Aufmerksamkeit widmet: ihre sinnliche Materialität. Diese kann – wie schon die Doppeldeutigkeit des titelgebenden Terminus der „Schrift-Passionen“ hervorhebt – sowohl innerfiktional als auch hinsichtlich ihrer rezeptionsästhetischen Wirkung widersprüchliche, zwischen Faszination, Irritation oder auch Aversion changierende Gefühle hervorrufen. Schmitz-Emans führt verschiedene direkte und indirekte „Formen des literarischen Kalküls mit fremder Schrift“ vor Augen und erörtert deren affektiv-emotionale Potenziale im Zusammenhang mit dem Leit-/Leid-Thema der Texte, Liebe und Passion. Als „eine Art Liebeserklärung an die Möglichkeiten der deutschen Sprache“ bezeichnet die Autorin Marica BodrožićBodrožić, Marica ihren Essay „Sterne erben, Sterbe färben. Meine Ankunft in Wörtern“, welcher im Zentrum von Monika Behraveshs Beitrag steht. In ihrer Textanalyse kann sie, hierin an Schmitz-Emans anschließend, die Verortung affektiver Wirkungspotenziale in der Materialität von Sprache nachweisen. Einen wichtigen Aspekt bildet dabei die Verschränkung von autobiographischer Rückschau und poetologischer Reflexion in Bodrožićs Auseinandersetzung mit ihrem Erwerb der deutschen Sprache. In diesem Zusammenhang gelingt es Behravesh, linguistische Ansätze wie das Konzept der linguaculture oder den Begriff des Spracherlebens, insbesondere die ihm inhärente affektiv-emotionale Komponente, für die Analyse literarischer Mehrsprachigkeit produktiv zu machen.

      Mit BodrožićsBodrožić, Marica Prosa befasst sich auch der Beitrag von Esther Kilchmann, nun jedoch in einer anderen, den dritten Themenkomplex eröffnenden Blickrichtung. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Bedeutung von Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel im Kontext von Erinnerungsprozessen, die zunächst unter theoretischem Gesichtspunkt erörtert wird. Der Beitrag zeichnet erstmalig die Geschichte dieser Frage in der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts nach. Auf dieser Grundlage analysiert er die mehrsprachige Erinnerungspoetik im Werk von BodrožićBodrožić, Marica und zeigt dabei auf, dass Sprachwechsel einerseits als Medium der Verdrängung fungiert, andererseits aber auch therapeutische Funktion besitzt, die zugleich zum produktiven Antrieb des Schreibens wird.

      Annette Bühler-Dietrich beschäftigt sich ebenfalls mit psychoanalytischen Ansätzen; der theoretische Ertrag ihres Beitrags resultiert aus der gewinnbringenden Verknüpfung von Affektkonzeptionen unterschiedlicher Provenienz. An den Affektbegriffen der Psychoanalyse und der an SpinozaSpinoza, Baruch de und DeleuzeDeleuze, Gilles/GuattariGuattari, Félix anschließenden Traditionslinie der affect studies interessiert Bühler-Dietrich weniger ihr spezifisches Spannungsverhältnis, vielmehr stellt sie über den Schmerz als tertium comparationis ihr verbindendes Element heraus. Am Beispiel von Katja PetrowskajasPetrowskaja, Katja Vielleicht Esther (2014) analysiert sie den engen Zusammenhang von Sprache, Affekt und Erinnerung. Mehrsprachigkeit deutet sie als einen Weg, Verlustschmerz zu artikulieren und zu balancieren. Der Beitrag von Lena Wetenkamp schließlich untersucht den polyphonen Raum der Mehrsprachigkeit