Affektivität und Mehrsprachigkeit. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
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Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000935
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discourse and meaning“16. Mit ihr ging allerdings eine erhebliche Vereinfachung einher, denn im ‚Jenseits der Sprache’ wurde affect nicht selten zu einem „magical term“17, der aus dem ‚postmodernen Zeichenwald‘ herausführen sollte und – maßgeblich an Gilles DeleuzeDeleuze, Gilles und Félix GuattariGuattari, Félix anschließend – die Produktivität von Intensitäten und forces of encounter betonte. Sprache läuft demgegenüber immer Gefahr, auf ihre zeichenhaften und semantisch bedeutenden Aspekte reduziert zu werden. Die problematische Annahme einer „Sprachunabhängigkeit der Affekte“18, deren historischer Genese Weigel nachgeht, wird damit von den affect studies teilweise selbst fortgeschrieben. Dies gilt auch für den performativ selbstwidersprüchlichen, rhetorischen Topos der Unsagbarkeit: Affektstudien kommunizieren (angeblich) Nicht-Kommunizierbares, versuchen aber im Medium der Sprache, Nicht-, Vor- oder Außersprachliches zu vermitteln.19

      Affect Studies und germanistische Emotionsforschung: Für ein Denken in Relationen

      Affekttheoretische Ansätze und germanistische Emotionsforschung scheinen vor diesem Hintergrund zunächst schwer vereinbar zu sein: Ein erster Grund hierfür liegt in der Aufmerksamkeit der affect studies für Phänomene jenseits der Reichweite des linguistic turns. Die Betonung der Materialität und Körperlichkeit von Affektivität ist eine Herausforderung, für die die poststrukturalistisch-semiotisch geprägte Germanistik nicht gut ausgerüstet ist.

      Ein zweiter Grund resultiert aus der Sprachskepsis seitens der affect studies, deren Entstehung vor dem Hintergrund des Überdrusses an „theories of signification“1 zu sehen ist und damit gewissermaßen selbst affektiv motiviert ist. Dass Sprache relational ist, dass sie auch in ihrer Repräsentationsfunktion affektive Bewegungen vollzieht und in Gestalt von Klang und Schrift2 über eine ihr eigene Materialität und Körperlichkeit verfügt, rückt damit aus dem theoretischen Horizont der Debatte. In diesem Kontext ist auch die Unterscheidung zwischen Affekt und Emotion in den affect studies zu situieren. Auf der einen Seite wird mit dem Affekt die Dynamik, Intensität und Unvorhersehbarkeit des Augenblicks gefasst, der sich der Versprachlichung entzieht. Dem ist die Emotion entgegengesetzt, die eine Überführung dieser Intensität in geregelte, normierte diskursive Bahnen bedeutet. Dass eine solche Konzeptualisierung die Literaturwissenschaft vor methodologische Schwierigkeiten stellt und den Weg zu ihrem sprachlich konstituierten Gegenstand eher verstellt als ebnet, kann kaum verwundern. Es handelt sich um eine wechselseitige Rezeptionssperre, die dazu geführt hat, dass eine größere Auseinandersetzung mit den affect studies in der Germanistik bislang ausgeblieben ist. Die Frage nach dem Verhältnis von Affektivität und Sprache bzw. Mehrsprachigkeit überhaupt zu stellen, bedeutet vor diesem Hintergrund eine zweifache Herausforderung: Weder soll Affektivität als vor-diskursives Geschehen, als ein, wie kritische Stimmen monieren, „homogenisierte[s] Auffanglager für alles Nicht-Sagbare begriffen werden“3, noch ist es wünschenswert, hinter die Einsichten in die kulturelle und soziale Prägung, Codierung und mediale Vermitteltheit von Emotionen und Gefühlen zurückzufallen.

      Vielmehr soll zum einen der Impuls aufgenommen und nach der Affektivität und Materialität sprachlicher Vollzüge gefragt werden. In diesem Sinne meint der Begriff der Affektivität eine fundamentale Dimension der Sprache. Damit vollzieht er durchaus eine ähnliche Denkbewegung wie der oben skizzierte Mehrsprachigkeitsbegriff: Affektivität und Mehrsprachigkeit fokussieren nicht so sehr distinkte, isolierbare Affekte oder Sprachen, sondern das relationale und immer schon plurale Sprachgeschehen selbst. Zum anderen gilt es, für die historische Bedingtheit und Strukturiertheit dieser Vollzüge sensibel zu bleiben und das Projekt einer literaturwissenschaftlichen Geschichte der Gefühle voranzutreiben. Vor diesem Hintergrund können auch einzelne Affekte und Emotionen wie beispielsweise Hass oder Schmerz als Verdichtungen und Konkretisierungen eines notorisch diffusen Geschehens begriffen werden, die spezifische Formen der mehrsprachigen Artikulation involvieren.4

      Im Sinne einer solchen Verbindung von affect studies und literaturgeschichtlich orientierter Emotionsforschung soll abschließend ein gemeinsamer Grundzug herausgestellt werden, der weitere Theorie- und Forschungsperspektiven eröffnen könnte: das Denken in Relationen, d.h. das Denken von dynamischen Wechselverhältnissen. Ihm zufolge werden Materialitäten und Zeichen durch ihre vielfachen Beziehungen allererst hervorgebracht, statt ihnen vorauszugehen.

      So steht die Relationalität der Zeichen im Zentrum der diskurswissenschaftlichen Methode; ihr anti-essentialistischer Impetus erlaubt es, Gefühle und Emotionen jenseits der Einfühlungshermeneutik auf einer überindividuellen Ebene zu untersuchen. Auch die affect studies verorten Emotionen und Affekte nicht im Inneren eines Individuums. Sie begreifen Emotionen und Affekte weder als Zuständlichkeit oder Befindlichkeit noch als Besitz oder Eigenschaft eines Subjekts, sondern als ein Geschehen, das sich in sozialen Räumen zwischen „Körpern jeglicher Art“5 abspielt und sie mithervorbringt. Damit verlagert sich der Akzent von der Betonung der zeichentheoretischen Differenz zur Betonung von materiell-körperlichen Wechsel- und Wirkverhältnissen.

      Sprache ist davon nicht ausgeschlossen, im Gegenteil: Im „gesellschaftlichen Leben des Wortes“, so lässt sich im Anschluss an BachtinsBachtin, Michail Überlegungen zur Redevielfalt und gegen die sprachskeptischen Teile der affect studies argumentieren, affizieren Wörter einander gegenseitig und bilden dabei Obertöne und Resonanzen. In diesem relationalen Kräftefeld gewinnen sie ihre Bedeutung und Kontur. Die Rede ebenso wie das einzelne Wort steht damit immer in einer Pluralität von Beziehungen; auch das einzelne Wort ist konstitutiv mehrstimmig.

      Wie im Abschnitt zur Mehrsprachigkeit bereits angedeutet, präfiguriert BachtinBachtin, Michail damit einen Perspektivwechsel, der für die Philologie der Mehrsprachigkeit zentral ist: Mehrsprachigkeit und Mehrstimmigkeit werden nicht als Abweichung, sondern die einsprachige Norm als eine historisch besonders wirkmächtige Konfiguration begriffen; allerdings eine, die neben und im Widerstreit mit anderen steht und damit selbst Teil einer pluralen Sprachwirklichkeit ist. Im Lichte der affect studies lässt sich Bachtin als ein Theoretiker der affektiven Relationalität der Literatur neu lesen. Jenseits des Stichworts der Intertextualität rückt die agonale Beziehungsdynamik der Sprache, die seiner Theorie zugrunde liegt, in den Fokus – und damit auch die klangliche und sinnlich-materielle Dimension literarischer Sprache. Bachtin kann sich in diesem Sinne als ein Schlüssel unter anderen erweisen, um die vielfältigen Formen und Ausgestaltungen des Verhältnisses von Affektivität und Mehrsprachigkeit zu untersuchen.

      3 Zu den Beiträgen

      Die Beiträge des Bandes nähern sich diesem Verhältnis aus unterschiedlichen Perspektiven, die ihnen zugrundeliegenden Texte umfassen verschiedene Genres, die von Lyrik über poetologische Essays und Sprachbiographien bis hin zu Romanen und Romanexperimenten reichen. Die Wahl der Gattung bedingt maßgeblich die jeweilige Gestaltung von literarischer Mehrsprachigkeit und Vielstimmigkeit. Es haben sich drei Schwerpunkte herauskristallisiert, die mit den skizzierten theoretischen Fragen korrespondieren, und die dem Band seine Struktur geben: Affekt und Sprachkritik, Mehrsprachigkeit und Zugehörigkeit sowie der Zusammenhang von Emotion und Erinnerung.

      Den Auftakt bildet ein am 2. November 2017 geführtes Gespräch mit der Autorin und Büchner-Preisträgerin Terézia MoraMora, Terézia, das sich auf Grundlage ihrer Salzburger Poetik-Vorlesung Der geheime Text (2016) und ihrem Roman Das Ungeheuer (2013) mit der Rolle der Mehrsprachigkeit für ihr eigenes Schreiben und dem Schreiben ihrer Protagonistin Flora auseinandersetzt. Wie der Strich in Das Ungeheuer deutlich markiert, führt ein ‚Mehr‘ an Sprachigkeit keineswegs zu mehr Verständnis; außerdem macht er sichtbar, dass mehrsprachiges Schreiben an gesellschaftliche Hierarchien gebunden ist.

      Die Beiträge der ersten Sektion beschäftigen sich mit der Frage, wie und auf welche Weise mehrsprachige Literatur selbst Sprache verhandelt. Sprachreflexion und Sprachkritik können nicht nur generell als prominente Merkmale moderner Literatur gelten, sie spielen insbesondere in mehrsprachigen Texten eine zentrale Rolle. Ob und wie sprachkritische Verfahren dabei von mehrsprachigen Verfahren abzugrenzen sind oder ob mehrsprachige Literatur per se sprachreflexiv oder gar sprachkritisch verfährt, wird in diesem Abschnitt diskutiert. Mit Blick auf die Einsprachigkeitsnorm