Affektivität und Mehrsprachigkeit. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
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Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000935
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Anstatt die Perspektive der Mehrsprachigkeit gegen ältere (und neuere) Bezeichnungen wie die der Migrationsliteratur, der interkulturellen oder der transkulturellen Literatur scharf abzugrenzen, bestehen hier vielmehr grundlegende Gemeinsamkeiten. So hat der Begriff der Migration in der theoretischen Debatte zu einer Infragestellung der Selbstverständlichkeit nationalstaatlicher Zugehörigkeit geführt: Migration in historischer Perspektive als ein grundlegendes Charakteristikum gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Moderne zu begreifen, vollzieht dabei eine ähnliche Denkbewegung wie Mehrsprachigkeit als Ausgangspunkt der Analyse historischer Einsprachigkeit zu nehmen: In beiden Fällen wird die Vorstellung nationaler Homogenität als scheinbar unhintergehbare Norm historisch situiert und relativiert.

      Auch in der kulturtheoretischen Debatte kann diese Bewegung erkannt werden. Besonders der Begriff der Transkulturalität macht kulturelle Praktiken als immer schon vielfach geteilte, verstrickte und verflochtene verständlich: Erst vor dem Hintergrund dieser kulturellen Hybridisierung werden Phänomene, wie etwa die deutsche Bühnenaussprache oder die britische Standardaussprache, die Perceived Pronunciation, zu spezifischen Konstellationen, deren Entstehung nicht selbstverständlich ist, sondern der historischen Untersuchung bedarf. Wie bereits angedeutet, ist auch für die Philologie der Mehrsprachigkeit eine solche Veränderung der Blickrichtung auf Sprache von zentraler Bedeutung. Anstatt von der Vorstellung einer in sich geschlossenen Sprache auszugehen, die sich erst später und auch nur eventuell mit anderen Sprachen verbindet und so rein additiv in der Summe Mehrsprachigkeit ergäbe, konzeptualisiert sie die soziale Praxis der Sprache notwendigerweise als plural und hybrid.

      Jenseits von langue und parole: Für eine Pragmatik der Mehrsprachigkeit

      Besonders eindringlich hat Jacques DerridaDerrida, Jacques die Vorstellung einer einheitlichen Sprache zurückgewiesen und in seinem Essay Le monolingualisme de l’autre ou la prothèse d’origine (1996) die These vertreten, dass die Muttersprache niemals zum eigenen Besitz werden könne, weil sie immer eine Spur des Anderen, des Fremden in sich trage: „Ich habe nur eine Sprache, und die ist nicht die meinige / die gehört nicht mir.“1 DerridaDerrida, Jacques verbindet mit der Muttersprache divergierende affektive Qualitäten wie Geborgenheit und Vertrautheit, aber auch Kultiviertheit und guten Geschmack, die die Ambivalenz im Fremdwerden der Muttersprache hervorheben. Dass die Muttersprache gleichsam zur Sprache der Mutter wird,2 dass sie aus vielfachen Gründen zu einer fremden Sprache wird, kann für literarische Mehrsprachigkeit als charakteristisch gelten.3 Das individuelle Fremdwerden der Muttersprache aus historischen und politischen Gründen, wie es in den folgenden Beiträgen anhand verschiedener Beispiele analysiert wird, ist jedenfalls systematisch vom nationalen Diskurs über die Muttersprache um 1800 abzugrenzen; ihre jeweiligen affektiven Besetzungen wären noch weiter zu untersuchen.

      An dieser Stelle zeigt sich besonders deutlich, dass vom Diskurs über Sprache nicht umstandslos auf die soziale Praxis des Sprechens und Schreibens geschlossen werden kann.4 Umgekehrt gilt, dass einsprachige Praktiken die Konzeption von Mehrsprachigkeit bereichern können, indem sie das der Alltagswelt enthobene System der langue auf zweifache Weise neu perspektivieren. Weder Einsprachigkeit und Mehrsprachigkeit noch Diskurs und alltägliche Redevielfalt stehen einander einfach gegenüber; es kommt vielmehr darauf an, die ‚Anderssprachigkeit‘ (Arndt/Naguschewski/Stockhammer) der Mehrsprachigkeit hervorzuheben, die in der Differenz zur Einsprachigkeit nicht aufgeht, sondern in ihrer Pluralität gedacht werden muss.

      Vor diesem Hintergrund erscheint es daher auch verfehlt, dem einheitlichen Sprachsystem und seinen Normen die Vorstellung einer anarchischen, regellosen und in jedem Falle subversiven Redevielfalt der Alltagswelt gegenüberzustellen. Damit würde die abstrakte Ebene der langue wieder nur mit der pragmatischen Ebene der parole kontrastiert und letztlich der Monolingualismus befördert: Das erkenntnistheoretische Privileg käme dann immer noch dem geschlossenen Systemcharakter der Sprache zu, während Mehrsprachigkeit als Abweichung von der Norm erschiene, wenn auch als eine Abweichung, die politisch oder ästhetisch prämiert wird. Eine solche Gegenüberstellung trägt zur Verklärung der Mehrsprachigkeit und einem einseitigen ‚Hype um Hybridität‘ bei, während sie soziale Differenzen weitgehend ausblendet.5 Dass beispielsweise die potentielle Erlernbarkeit einer allgemeinen, verbindlichen Norm eine Voraussetzung für demokratische Teilhabe ist und dass sprachliche Standardisierung Gleichheit ermöglichen kann, droht bei der bloßen Gegenüberstellung von Monolingualismus und Mehrsprachigkeit aus dem Blick zu geraten.

      Um solchen Vereinfachungen entgegenzuwirken, ist es hilfreich, diejenigen Dimensionen der Sprache zum Ausgangspunkt zu machen, die quer zu Monolingualismus und Mehrsprachigkeit verlaufen. Die Betonung der Pragmatik in der Mehrsprachigkeitsphilologie geht in diese Richtung: Dass Sprache vollzogen wird, notwendig verkörpert und sozial ist, gilt nämlich sowohl für die monolinguale Norm als auch für Mehrsprachigkeit. Als soziale Praktiken können sie auf einer Ebene begriffen werden, ohne dass dabei Machteffekte nivelliert werden: Praktiken der Standardisierung, mit BachtinBachtin, Michail: die „zentripetalen Kräfte der Sprache“6, stehen mit mehrsprachigen Praktiken, den „zentrifugalen Kräften“7, in einem spannungsvollen, zuweilen hierarchischen Verhältnis – sprach- und sozialtheoretisch sind sie aber nicht auf zwei völlig verschiedenen Ebenen angesiedelt, wie der Gegensatz von langue und parole suggeriert.8 Eine ähnlich transversale Perspektive auf Sprache wird auch durch den Begriff der Affektivität befördert. Dass Sprache sinnlich und sozial ist und notwendigerweise auf irgendeine Weise verkörpert wird, kurz: dass sie eine eminent affektive Dimension hat, gilt für ihre mehrsprachige ebenso wie für einsprachige Artikulation. Der folgende Abschnitt ist dieser Dimension und ihrer theoretischen Konzeptualisierung gewidmet.

      2 Die Perspektive der Affektivität

      Sprache bringt Gefühle zum Ausdruck und ruft ebensolche hervor. Diese Feststellung ist keineswegs trivial, denn die „mitunter babylonisch anmutende diskursive Vielfalt“1 des historischen Affekt- und Emotionsdenkens stellt die Literaturwissenschaft vor erhebliche Herausforderungen, die die methodische und theoretische Heterogenität ihrer multidisziplinären Forschungsansätze noch verstärkt. Da sich der Emotionsbegriff Martin von Koppenfels und Cornelia Zumbusch zufolge gegenüber dem historisch älteren Begriff des Affekts durchgesetzt hat,2 firmiert das seit den 1990er Jahren (wieder-)erwachte Interesse der Literaturwissenschaft an Gefühlen, ihrer sprachlichen Thematisierung und Präsentation, Produktion und Rezeption, unter dem Schlagwort eines emotional turn.3

      Emotional turn

      Gegenüber den älteren, autorzentrierten Verfahren der hermeneutischen Einfühlung war es Konsens der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung im Zeichen von Strukturalismus und Poststrukturalismus, dass sich Gefühle stets vermittelt artikulieren und historisch geprägt sind. So ist die Aufwertung des emotiven Gehalts der Literatur durch diskursanalytische Ansätze allererst ermöglicht worden, indem sie einen intersubjektiv nachvollziehbaren Zugang zu literarischen Konstruktionen von Gefühlen und Emotionen eröffnet haben. Gleichzeitig wurden in der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung zunehmend empirisch orientierte, psychologische und neurowissenschaftliche Ansätze relevant.1 Die wirkungsmächtigen Entwicklungen der neuro- und kognitionswissenschaftlichen Forschungen haben nicht nur in einer ganzen Reihe von Disziplinen, sondern auch in der breiteren Öffentlichkeit zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema der Emotionen beigetragen und eine Infragestellung der Dichotomie von Rationalität und Gefühl unterstützt.2 Als neue Leitdisziplinen der Emotionsforschung haben sie aber auch von verschiedenen Seiten Widerspruch hervorgerufen.3

      Sigrid Weigel hat sich mit der „Renaissance der Gefühle in den gegenwärtigen Neurowissenschaften“ befasst und dabei aus kulturwissenschaftlicher Sicht bedenkenswerte Einwände formuliert, die insbesondere der Sprach- und Geschichtsvergessenheit der Neurowissenschaften gelten.4 Die Frage, um was es sich bei der „Entdeckung der Gefühle“ durch die Hirnforschung eigentlich handele, stellt sich ihr geradezu als ein Problem der Mehrsprachigkeit, sprich: „der Termini und ihrer Übersetzungen zwischen verschiedenen Registern (Fachsprachen und Nationalsprachen), als Problem der Begriffs- und Wissenschaftsgeschichte dessen, was dabei mit dem Wort Gefühl benannt wird, aber auch als Frage nach der Rolle der Sprache für die Gefühle,