Mediale und konzeptionelle Schriftlichkeit (Dürscheid 2006: 45, modifiziert nach Koch & Oesterreicher 1994: 588)
Konzeptionell schriftliche Sprache, die sogenannte „Sprache der Distanz", ist kompakt, komplex, elaboriert und weist eine hohe Informationsdichte auf (siehe Koch & Oesterreicher 1985: 23). Diese Eigenschaften hängen wiederum stark mit den funktionalen Charakteristika von Fachtexten zusammen, zu denen beispielsweise nach Roelcke (2010: 24ff) Deutlichkeit, Verständlichkeit, Ökonomie und Anonymität zählen (vergleiche auch Lerneinheit 1.3). Diese funktionalen Eigenschaften prägen sowohl die Entwicklung des Fachwortschatzes und wirken sich auch auf die grammatikalischen Charakteristika von Fachtexten aus. Welche grammatikalischen Eigenschaften für Fachsprache typisch sind und in welchem Zusammenhang sie zu den fachsprachlichen Funktionen stehen, werden Sie in den nächsten Abschnitten erfahren.
2.2.2 Grammatik in fachsprachlichen Texten
Roelcke (2010: 78) beschreibt die lexikalischen und grammatikalischen Charakteristika der Fachsprachen folgendermaßen: „Besonderheiten von Fachsprachen sind […] vorwiegend auf der Ebene des Wortschatzes festzustellen. Fachliche Spezifika auf der Ebene der Grammatik sind demgegenüber deutlich weniger präsent […]". Während sich der Wortschatz, das „beweglichste Subsystem der Sprache“ (Schippan 1975: 120), leicht durch Wortbildung oder Entlehnungen erweitern lässt, verändert sich die Grammatik einer Sprache nicht so schnell. Daher treten in Fachtexten selten neue grammatikalische Muster auf, die in anderen Textsorten überhaupt nicht vorkommen, sondern die Unterschiede sind eher quantitativ: Bestimmte grammatikalische Merkmale sind in fachsprachlichen Texten entweder häufiger oder auch seltener als in anderen Textsorten zu finden, wobei es natürlich durchaus Unterschiede zwischen einzelnen Textsorten und zwischen den Disziplinen gibt.
2.2.3 Morphologie und Syntax
Morphologie teilt sich traditionell in die Bereiche Wortbildung und Flexion auf. Die Wortbildung in Fachsprachen wurde schon in der Lerneinheit 2.1 Lexikalische Eigenschaften von Fachsprachen behandelt. In diesem Abschnitt möchten wir uns auf den Bereich Flexionsmorphologie konzentrieren und zunächst untersuchen, welche Flexionsformen sehr häufig beziehungsweise weniger häufig in Fachtexten auftreten, und danach überlegen, welche Funktionen durch die charakteristische Fachsprachengrammatik ausgedrückt werden können.
Bei Substantiven und Adjektiven, Wortarten, die sehr häufig in Fachtexten vorkommen – Hoffmann (1998: 424) schätzt ihren Anteil auf 50 % – und einen Großteil des Fachwortschatzes stellen, gibt es bezüglich ihrer Flexionsmorphologie relativ wenige Unterschiede zur Gemeinsprache. Auffallend ist beispielsweise bezüglich der Kategorie Numerus, dass manche Substantive, die in der Gemeinsprache nur im Singular existieren, im fachsprachlichen Gebrauch auch im Plural vorkommen, beispielsweise Stahl – Stähle oder Sand – Sände (in der Gemeinsprache Stahlsorten beziehungsweise Sandsorten). Solche Pluralformen treten fachsprachlich vor allem bei Stoffbezeichnungen auf und tragen zur Ökonomie und Präzision der Aussage bei.
In Bezug auf den Kasus lässt sich feststellen, dass Substantive relativ häufig im Genitiv auftreten (…. zum Messen der Deformation einer Oberfläche eines Rohrs …). Durch die Verwendung dieser Genitivattribute entstehen komplexe Nominalphrasen, die einen bestimmten Sachverhalt sowohl ökonomisch als auch sehr differenziert und präzise ausdrücken können.
Verben kommen in Fachtexten nicht sehr häufig vor, nach Hoffmann (1998: 424) beträgt ihr Anteil circa 10–14 %. Hinsichtlich ihrer Flexionscharakteristika sind sie für die Fachsprachenlinguistik eine interessante Wortart, denn in Fachtexten treten meist nur wenige Formen des Konjugationsparadigmas auf, es liegt also eine Reduktion des Verbinventars vor: Zunächst fällt auf, dass sehr häufig die 3. Person vorkommt (Das Ventil besteht aus dem freien Ventilkörper und dem zylinderförmigen Ventilsitz oder Häufiger kommen Kunststoffe zum Einsatz); wesentlich seltener wird, bedingt durch die Textgattungen, die 1. oder 2. Person verwendet.
Die Vermeidung der 1. Person Singular hängt mit der Vermeidung des Personalpronomens ich zusammen und wird als sogenanntes Ich-VerbotIch-Verbot (Weinrich 1989: 132f) beziehungsweise Ich-TabuIch-Tabu bezeichnet. Die Ich-Vermeidung ist durchaus fächerspezifisch; nach Graefen (1997: 204) wird ich in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern etwas häufiger verwendet als in den Naturwissenschaften oder der Mathematik. Steinhoffs Korpusstudie [z]um ich-Gebrauch in Wissenschaftstexten (2007a) zeigt in einer Analyse wissenschaftlicher Aufsätze aus der Linguistik, Literaturwissenschaft und Geschichte, dass (nur) 40 % der Autoren ich überhaupt nicht verwendeten, von den drei untersuchten Disziplinen trat ich am häufigsten in der Linguistik auf und am seltensten in der Geschichtswissenschaft.
Zum Ausdruck der Objektivität, Anonymität und Allgemeingültigkeit fachlicher Aussagen werden statt ich unterschiedliche Ersatzkonstruktionen verwendet. Dazu zählen vor allem unbestimmte Pronomina (man, es), aber auch lexikalische Stellvertreter (die Autoren, der Verfasser, die Forscher). Manchmal wird auch die 1. Person Plural (wir), der sogenannte Pluralis AuctorisPluralis Auctoris (oder AutorenpluralAutorenplural) verwendet (Im Folgenden gehen wir davon aus, dass … oder Weiterhin können wir annehmen, dass …). Der Pluralis Auctoris bezieht die Angesprochenen in die Argumentation mit ein (zum Beispiel Fiedler 1995), knüpft gewissermaßen Kontakt mit der Leser- oder Zuhörerschaft und betont gleichzeitig die Objektivität und Allgemeingültigkeit der Aussage, da wir nicht nur die Meinung des einzelnen Autors beziehungsweise der einzelnen Autorin ausdrückt, sondern oft für „die Wissenschaft“ beziehungsweise „die Forschergruppe“ steht (vergleiche hier auch Graefen 1997).
Als Modus wird meistens der Indikativ gebraucht (Die Abbildung stellt dar, auf welchen Komponenten die Software aufbaut), der eher selten verwendete Konjunktiv (Die Behauptung, das Risiko sei nicht akzeptabel, ist nicht ganz von der Hand zu weisen oder An dieser Stelle sei erwähnt) erfüllt in wissenschaftlichen Texten oft eine relativierende Funktion. Imperativformen findet man vor allem in Aufforderungen in Gebrauchsanleitungen und ähnlichen Textsorten (Schalten Sie das Gerät ein und folgen Sie den menügeführten Anweisungen zur Konfiguration oder Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker). Dies hängt damit zusammen, dass der Indikativ als unmarkierter Modus verwendet wird, um Tatsachen beziehungsweise allgemeingültige Aussagen wiederzugeben, und damit die Informationsfunktion der Fachkommunikation unterstützt.
Verglichen mit anderen nichtfachlichen Textsorten taucht das Passiv in Fachtexten relativ häufig auf (Dieses Dialogfeld wird geöffnet, wenn im Kontextmenü der Befehl „Neu installieren“ gewählt wird). Auch reflexive Konstruktionen sind relativ häufig (Danach öffnet sich ein Fenster für den Dateinamen). Unterstützt wird damit die Unpersönlichkeit und neutrale Beschreibung eines Sachverhalts (vergleiche Roelcke 2010: 82ff), wobei der Sachverhalt (das Öffnen des Dialogfelds beziehungsweise das geöffnete Dialogfeld) im Vordergrund steht und der Verursacher beziehungsweise die Verursacherin der Handlung (derjenige beziehungsweise diejenige, der oder die das Dialogfeld öffnet) als redundant beziehungsweise unwichtig angesehen wird.
Auch Infinitive werden oft verwendet, entweder mit „um zu“ (Um zu gewährleisten, dass das Produkt mit anderen Versionen kompatibel ist …), als Substantivierung (Dabei kann in der Regel das Polieren eingespart werden) oder als Aufforderung, Anweisung beziehungsweise Verbot (PIN sofort ändern), um den Finalsatz zugunsten der sprachlichen Ökonomie einzusparen.
Die Partizipien I und II kommen