Dies alles ist typisch für Übergangsphasen, in denen sich alle Beteiligten auf eine neue Situation einstellen und viele auf einen Konsens hoffen, der ihnen gewisse Sicherheiten gibt. Nicht jeder kann oder will dabei an die Gesamtentwicklung denken. So hilfreich und konstruktiv ein Konsens sein kann, so sehr kann er auch lähmen. Die Frage muss stets sein: Konsens für was und mit wem, und wer sitzt dabei am längeren Hebel? Ein Konsens unter allen, die von dem Wandel in sehr unterschiedlicher Weise tangiert sind, führt zwangsläufig zur Verlangsamung. Oder Konsens unter denjenigen Kräften, die ein gemeinsames Ziel anstreben und sich dafür verbünden? Ein Konsens aller Betroffenen für einen schnellen Energiewechsel wäre nur denkbar, wenn das damit verfolgte Ziel eine »win-win«-Perspektive für alle eröffnete. Dieses Versprechen wird gerne von denen geäußert, die notwendigen Konflikten ausweichen wollen. Bei der Umorientierung zu erneuerbaren Energien ist jedoch ein »win-win« objektiv unmöglich.
Der Wechsel zu hundert Prozent erneuerbaren Energien bedeutet den umfassendsten wirtschaftlichen Strukturwandel seit dem Beginn des Industriezeitalters. Ein Strukturwandel ohne Verlierer und Gewinner ist undenkbar. Verlierer werden unweigerlich die Anbieter der konventionellen Energien sein – in welchem Ausmaß das der Fall ist, hängt von ihrer Einsicht, Bereitschaft und Fähigkeit ab, sich an Haupt und Gliedern umzustrukturieren, sich mit drastisch sinkenden Marktanteilen abzufinden und neue Tätigkeitsfelder für sich zu finden, die keine energiewirtschaftlichen mehr sein werden. Versuche, der Verliererrolle in diesem Wandlungsprozess zu entkommen und ihre zentrale energiewirtschaftliche Rolle zu behalten, führen zu widersprüchlichen, untauglichen und teuren Verlangsamungsstrategien. Die Gewinner des Wechsels werden die Weltzivilisation insgesamt und ihre Gesellschaften und Volkswirtschaften sein, und in diesen die Technologieunternehmen sowie viele lokale und regionale Unternehmen. Es wird in jedem Fall entschieden mehr Gewinner des Energiewechsels als Verlierer geben. Einem großen Teil der potenziellen Gewinner sind die Chancen noch nicht bewusst, weshalb sie noch auf der Gegenseite stehen. Den größeren Einfluss auf das praktische Geschehen haben derzeit noch die etablierten potenziellen Verlierer, den geringeren die noch längst nicht etablierten Gewinner.
Realer Realismus
Zwar treibt jede wirtschaftliche wie auch politische Initiative für erneuerbare Energien, unabhängig von dem jeweiligen handlungsleitenden Motiv, die Entwicklung irgendwie voran. Dennoch sind nicht alle gleichwertig und für die Realisierung eines schnellen Energiewechsels gleich geeignet. Deshalb ist es entscheidend, die Spreu vom Weizen zu trennen und zu erkennen,
– welche Initiativen die uneingeschränkte Entfaltung erneuerbarer Energien ermöglichen und welche sie nur in einem beschränkten Ausmaß erlauben – und ob sie sich ergänzen oder wechselseitig im Wege stehen;
– welche Konzepte die Zahl der Akteure für erneuerbare Energien erweitern und ihnen die erforderlichen Handlungsspielräume geben, und welche demgegenüber das Spektrum auf wenige Akteure reduzieren, von denen dann der weitere Verlauf abhängig ist;
– welche Initiativen den vielfältigen Motiven für die Umorientierung auf erneuerbare Energien gerecht werden, statt sie auf einen Zweck – etwa ihre Bedeutung für den Klimaschutz – zu verengen, was automatisch zu beschränkten Konzepten führt.
Der Katalog strittiger Fragen ist groß: Was muss von internationalen Vertragsbemühungen abhängig gemacht werden? Sind die Weltklimaverhandlungen der Königsweg, von dem alles weitere abhängt, oder ein Trampelpfad, auf dem kaum etwas vorankommen kann? Fördert der Emissionshandel den Energiewechsel oder bremst er ihn? Sind umfassendere multilaterale Ansätze nötig oder mehr einzelne Schrittmacher? Welchen Stellenwert haben die verschiedenen Optionen für erneuerbare Energien? Sollen erneuerbare Energien vorwiegend dort gewonnen werden, wo mehr Sonne scheint oder mehr Wind weht, also in räumlicher Konzentration, oder überall? Was ist unter einer »kostengünstigen« und »wirtschaftlichen« Energieversorgung zu verstehen? In den Vordergrund der strittigen Fragen rückt dabei zunehmend die Diskussion über »dezentrale« oder »zentrale« Strukturen einer Energieversorgung mit erneuerbaren Energien: Sind Großkraftwerke dafür überhaupt notwendig, und wenn, unter welchen Bedingungen? Ist ein weiträumiger Netzausbau mit »Supergrids« auch für eine überwiegend dezentrale Bereitstellung erneuerbarer Energien unverzichtbar, oder muss der Schwerpunkt bei regionalen und lokalen »smart grids« liegen? Aus diesen Streitfragen ergeben sich nicht nur unterschiedliche Handlungskonzepte, sondern auch Zielkonflikte über die Einführung erneuerbarer Energien, die angesprochen und ausgetragen werden müssen. Davor scheuen nicht nur Parteien und Regierungen, sondern auch viele Verfechter erneuerbarer Energien zurück und erklären aus Gründen der Konfliktvermeidung alle divergierenden Konzepte für gleich wichtig und förderungswürdig.
Kontroversen über die Mittel und Wege zu erneuerbaren Energien werden nicht nur in politischen Institutionen ausgetragen, sondern auch in Umweltorganisationen und Organisationen für erneuerbare Energien. Sie verwirren viele und führen zu öffentlicher und politischer Verunsicherung darüber, welcher Weg zum Energiewechsel eingeschlagen werden soll. Deshalb ist eine kritische Bestandsaufnahme überfällig, die die verschiedenen Ansätze nach ihren praktischen Erfolgsaussichten und Konsequenzen bewertet. Über allem steht dabei die Frage, warum die unübersehbar und unaufschiebbar gewordene energetische Existenzfrage – die nicht zuletzt eine ethische ist – immer noch überwiegend halbherzig behandelt wird, obwohl die dafür angegebenen Gründe fadenscheinig sind und ein konsequent forcierter Energiewechsel unerlässlich geworden ist. Es gibt kürzere und längere Wege, die »nach Rom führen«. Sie sind mit vielerlei unterschiedlichen Widerständen und Umsetzungsproblemen gepflastert und haben verschiedenartige politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Auswirkungen. Umso wichtiger ist es, diejenigen Wege klar zu erkennen, auf denen das Ziel des Energiewechsels am schnellsten erreichbar ist. Ob diese Wege eingeschlagen werden, darf nicht nur betriebswirtschaftlich oder »energiepolitisch«, sondern muss volkswirtschaftlich, gesamtpolitisch und nicht zuletzt nach ethischen Grundsätzen entschieden werden.
Die systematische Bestandsaufnahme, die ich in diesem Buch versuche, ist als Navigationshilfe für Durchbruchsstrategien gedacht. Ihr liegen meine Erfahrungen in der Entwicklung und im Durchsetzen der bisher national und international erfolgreichsten politischen Initiativen für erneuerbare Energien zugrunde – und ebenso meine Beobachtungen über Erfolge und Misserfolge von Konzepten in vielen Ländern. Um etwas durchzusetzen, muss man erkennen, mit welchen Hindernissen zu rechnen ist und wie sie überwunden werden können. Dazu muss man wissen, welche Interessen und Absichten hinter den Widerständen stehen und welche Kräfte dagegen gesetzt werden müssen. Dabei steht jeder einzelne Akteur vor der Frage, welches Grundverständnis von Realismus seinem eigenen Handeln zugrunde liegt: Zu viele verstehen darunter, nur das zu verfolgen, was im bestehenden Rahmen und in den gegebenen Kräfteverhältnissen realisierbar scheint. Wenn sich aus der Analyse eines Ist-Zustands aber nur beschränkte Handlungsmöglichkeiten ergeben, die auf die reale Herausforderung keine angemessene Antwort erlauben, ist ein anderes Verständnis von Realismus gefordert, das auf die Veränderung des Parallelogramms der Kräfte zielt, um den Handlungsrahmen erweitern zu können. Angesichts der sich zuspitzenden Gefahren aus der überkommenen Energieversorgung geht es nicht mehr nur um eine Politik als »Kunst des Möglichen«, sondern um eine möglich zu machende Politik der »Kunst des Notwendigen«. Das ist der reale Realismus, der für den Energiewechsel notwendig ist. Analysen und Konzepte müssen kompromisslos durchdacht werden. Kompromisse, die in der Regel unvermeidlich sind, gehören in das Feld der praktischen Umsetzung. Deshalb zeige ich, welche Engpässe bewältigt werden müssen und warum eindimensionale Betrachtungen nicht weiterführen. Gedankliche Öffnungen sind die Voraussetzung für praktische Durchbrüche.
Der politische Schlüssel für den Energiewechsel besteht darin, den bestehenden energiewirtschaftlichen Handlungsrahmen aufzubrechen. Dieser ist zwangsläufig partikular und engt die umfassenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Chancen des Wechsels zu erneuerbaren Energien ein. Als gesamtwirtschaftliches und -gesellschaftliches Zukunftsprojekt kann der Energiewechsel nicht nur