Granate oder Granatapfel, was hat der Schwarze in der Hand. Dany Laferriere. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dany Laferriere
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783884236604
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sich um die Gegenwart zu kümmern. Sie hinken völlig hinterher, dicht gefolgt von den Bildhauern. Aber die Zeit rast, Bruder. Eigentlich hätten wir das als erste begreifen müssen, denn Schreiben bedeutet angeblich, über die Zeit zu herrschen. Dass ich nicht lache! Die Zeit steht auf unseren weißen Blättern ganz still. Eine tote Zeit. Denn die echte läuft weiter. Schaut euch die Athleten da draußen an. So selbstsicher, lebenslustig, fiebrig, das linke Auge immer auf die Stoppuhr geheftet. Sie wissen, was sie wollen und was sie wert sind, auf die Zehntelsekunde genau. Habt ihr den Kopf von Carl Lewis gesehen? Diesen Kopf eines Prinzen trüge ich gerne auf meinen Schultern. Lewis ist es gewohnt, an den Start zu gehen, um zu messen, was er wert ist. Ohne Wehleidigkeit. Die Stoppuhr in der Hand. So häufig wie du zum Wäschewaschen gehst. Die Schriftsteller schwimmen dagegen im künstlerischen Ungefähr. Manchmal löst das bei mir einen Brechreiz aus. Nur sehr wenige Schriftsteller können genau angeben, wo sie gerade stehen. Es ist der letzte Berufsstand, der so bedingungslos an der Bescheidenheit festhält, dieser tugendhaften Form der Heuchelei. Dazu die Behauptung, man schreibe, um sich selbst besser kennenzulernen. Natürlich würde keiner sagen, Carl Lewis und Hemingway übten denselben Beruf aus. Doch bin ich mir nicht mal sicher, ob Hemingway das auch so gesehen hätte. Denn er wollte den Sport und das Schreiben näher zusammenbringen. Kein schlechter Versuch, übrigens. Dabei verdienten die Sportler damals praktisch nichts. Heute verdient Carl Lewis Millionen, für nicht mal zehn Sekunden. Das ist ein Beruf, der es wirklich weit gebracht hat. Die Sprünge, die er macht! Warum meint man immer noch, die Energie des Hirns sei besser als die Energie der Muskeln? Was lässt uns glauben, ein Schriftsteller sei intelligenter als ein Athlet? Der eine benutzt sein Gehirn, sagen Sie. Welcher von beiden? Der sich drei Jahre mit einem Roman abmüht, der ihm alles in allem 5000 Dollar einbringt, oder dagegen Carl Lewis? Ja, aber … Aber was? Ein Schriftsteller hat mehr Prestige. Selbstverständlich, wenn dir das hilft, weiterzuschreiben, Bruder.

      MIT WUT IM HERZEN

      AIDS kommt nicht vom Sex, sondern vom Ekel vor dem Sex im Westen. Und wer zahlt heute die Zeche? Wieder die Dritte Welt. Die Erkenntnis hat sich noch nicht durchgesetzt, dass Sex die einzige sinnvolle Freizeitbeschäftigung der Armen ist. Auch in Nordamerika gibt es die Dritte Welt. Es sind die Ghettos, wie Ameisenhaufen, wo es von armen, analphabetischen Schwarzen wimmelt und wo die schwangeren Teenager manchmal Kokain (oder eher Crack!) mit Milchpulver verwechseln. Das Kind kommt blind, drogenabhängig und krank auf die Welt. Doch das bringt es nicht um, sondern eine Kugel in seinem Kopf an der Ecke 125. Straße und Broadway. In diesen Verhältnissen ist der Rap entstanden.

      „Aber Rap ist doch Scheiße!“, sagte mir Kunta am Telefon.

      „Nicht so schnell, Bruder.“

      „Was denn sonst?“

      „Der Rap hat den Zeitgeschmack auf die Dichtung gebracht … Seitdem die Typen aus dem Ghetto rappen, haben alle Kids aus den Armenvierteln weltweit angefangen, Reime zu schmieden.“

      „Das nennst du Dichtung! Das ist doch eine vorübergehende Mode …“

      „Das hat man schon beim Jazz gesagt.“

      „Jazz ist was anderes …“

      „So heißt es immer … Sobald etwas zum Klassiker wird, vergisst man, wie weit der Weg dahin war.“

      „Was findest du selbst denn am Rap?“

      „Ich persönlich gar nichts. Aber ich frage mich, warum diese Kids plötzlich anfangen, mit den Wörtern zu spielen.“

      Stille am Ende der Leitung. Ein Punkt für mich. Aber nur einer.

      „Mit dieser Wut“, fügte ich hinzu.

      „Aber die ist doch nur gespielt. Sobald sie eine Platte haben, sind sie raus aus dem Elend.“

      Wir lachten beide.

      „Ich meine nicht die, sondern die Kids, die in überhitzten Kellern auftreten, auf Autofriedhöfen oder unbebautem Gelände … Früher drückten sie sich eher darin aus, dass sie das Auto des Nachbarn kaputtschlugen, etwas in Brand steckten oder einen Überfall auf den Eckladen verübten (nie weit genug von ihrem Zuhause, die Deppen!). Heute brandstiften sie mit Worten … Vielleicht ist das kein Fortschritt, aber mir gefällt es zu sehen, wie sie nach der treffendsten Beleidigung suchen …“

      „Das ist doch hauptsächlich frauenfeindlicher Mist“, hielt mir Kunta entgegen. „Klar, wollen sie alle Bullen umbringen, aber was bringt das für sie? Es kommen doch immer wieder neue … Außerdem sind wir nicht mehr in den Sechzigerjahren. Der echte Feind ist nicht mehr der Bulle, sondern es sind die Banker von der Wall Street, die von ihren Glastürmen aus ein Land der Dritten Welt ins Elend stürzen können.“

      „Stopp, Kunta, was soll ich dir antworten, wenn du mir meine eigenen Argumente entgegenhältst? Als würde ich mit mir selbst diskutieren.“

      „Vielleicht stimmt das sogar …“

      Er legte lachend auf.

      Diskutiere ich mit mir selbst? Habe ich den Mann erfunden, um nicht allein zu sein? Der Scheck ist aber echt. Ehrlich gesagt, kommt mir die ganze Angelegenheit plötzlich verdächtig vor. Leute, von denen ich keine Ahnung hatte, rufen mich ausgerechnet in dem Moment an, als ich in einer schweren wirtschaftlichen Depression versinke, und bieten mir eine große Reportage über Amerika an. Ein Typ, den ich nicht kenne, hat meine Adressdaten an Leute gegeben, die ich noch weniger kenne. Norman Mailer haben sie auf Schritt und Tritt verfolgt. James Baldwin hing an der Abhöranlage. Die FBI-Akte von William Styron war ziemlich dick. Man muss aufpassen. Wie soll ich mich verhalten? Damit sie einen nicht erwischen, muss man unauffällig bleiben. Schlicht der sein, der man ist. Sie wollen immer deine Geheimnisse herausfinden. Schreib sie alle hin. Keine Geheimnisse, das ist mein intimstes Geheimnis. In jedem Fall haben wir in unserem Inneren einen verschlossenen Bereich, den auch der klügste Geheimagent (dieses Wort gefiel mir als Jugendlicher so sehr: Geheimagent!) niemals knacken wird. Und wenn ich beschließe, mich nicht in diese Höhle zu begeben? Sie unberührt zu lassen? Was ist mit einem Geheimnis, das keiner kennt? Wenn ich diesem Hang zum Zen weiter nachgebe, werde ich am Ende noch wie Salinger. Vielleicht lag eben darin seine Beziehung zu Amerika. In seiner Beziehung zum Geheimnis. Salinger enthüllt uns seine unsichtbare Seele und verbirgt das Sichtbare, den Körper. Im Grunde nur eine andere Art und Weise, seine Seele zu schützen. Er führt uns auf eine falsche Fährte. Und Amerika? Macht es vielleicht wie Salinger: zeigt eher den Körper als die Seele … Ich wehre mich gegen die Idee, diese Überlegungen kämen nur vom Bier. Ich halte sie für das Ergebnis einer langen, metaphysischen Suche.

      NUR IM DUNKELN DENKT DER SCHWARZE WIRKLICH NACH

      Du brauchst einen langen Atem, Alter. Das Gute ist, sobald du durch die Ozonschicht bist und den freien Raum erreichst, hast du ausgesorgt. Von da an läuft alles von selbst. Die Frauen kommen auf dich zu. Von sich aus. Ohne dass du sie begehrst. Aber bevor du diese Stufe erreichst, wirst du enorm hart schuften müssen! Immer wieder zeigt sich ein ziemlich schwieriger Knoten und du meinst, den wirst du nie aufkriegen. Gerade dann musst du dich mit aller Geduld wappnen und ihn ganz langsam, Äderchen für Äderchen, aufdröseln. Dann hast du es allerdings immer noch nicht geschafft. Ein weiterer, noch schwierigerer Knoten stellt sich ein und du brauchst noch mehr Geduld und so bist du über sechzig, bevor du alle Knoten gelöst hast, und musst zugeben, dass du gefickt bist. Alles auswischen, bitte. Noch mal von vorne, Bruder. Du musst einfach aufhören daran zu denken und es tritt von selbst ein, wie ein ununterbrochener Orgasmus. Einfach geil! Du stehst eines Morgens auf und fängst an, wie ein Verrückter den kurzen Roman zu schreiben, den die ganze Welt voll Ungeduld erwartet hat. Du sagst dir: „Das ist nicht wahr, das kann nicht so leicht sein, irgendwas stimmt nicht mit mir. Ich bin nicht ganz ich selbst. Wer ist der kleine Witzbold in mir, der mir diesen üblen Streich spielt?“ Trotzdem geht es weiter und du tippst wie ein Verrückter. Du hast keinen Hunger, keinen Durst, nicht mal Lust zu vögeln. Du bist schlicht in einem anderen Zustand und überzeugt, wenn du jetzt aufhörst, kommt das nie wieder. Deshalb machst du weiter. Du weißt nicht mehr genau, was du schreibst, aber du spürst, es geht über deine Kräfte, es ist noch jemand anderes im Zimmer, gleich