MARTIN HENGEL, Zwischen Jesus und Paulus, ZThK 72 (1975), 151–206. − NIKOLAUS WALTER, Apostelgeschichte 6,1 und die Anfänge der Urgemeinde in Jerusalem, in: ders., Praeparatio Evangelica, WUNT 98, Tübingen 1997, 187–211 (= 1983). – HEIKKI RÄISÄNEN, The „Hellenists“ – A Bridge between Jesus and Paul?, in: ders., The Torah and Christ, SESJ 45, Helsinki 1986, 242–301. – CRAIG C. HILL, Hellenists and Hebrews: Reappraising Division within the Earliest Church, Minneapolis 1992. − GERD THEISSEN, Hellenisten und Hebräer (Apg 6,1–6). Gab es eine Spaltung in der Urgemeinde?, in: Hermann Lichtenberger (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion (FS M. Hengel), Bd. III, Tübingen 1996, 323–343. – MICHAEL ZUGMANN, „Hellenisten“ in der Apostelgeschichte, WUNT 2.264, Tübingen 2009. − JAMES D.G. DUNN, Beginning from Jerusalem, 241–278.
Mit Kap. 6 ändert sich die Erzählperspektive der Apostelgeschichte; das in Apg 1–5 vorherrschende Bild vom harmonischen Leben der Jerusalemer Gemeinde bekommt Risse. Bisher wuchs die Gemeinde in außerordentlicher Weise (vgl. Apg 2,41; 4,4, 5,14); sie genießt Hochachtung beim Volk (Apg 5,13b), alle sind ein ‚Herz‘ und eine ‚Seele‘ (Apg 2,44; 2,34) und haben alles gemeinsam (Apg 2,44ff; 4,32), so dass niemand Not leiden muss (Apg 4,34). Nun dominiert eine andere Wirklichkeit; die Hochachtung des Volkes gegenüber der Gemeinde ist heftigen Auseinandersetzungen und Verfolgungen gewichen, die im Martyrium des Stephanus ihren Höhepunkt finden (vgl. Apg 6,11–14; 7,57–58). Es kommt zu Ausschreitungen gegen die neue Bewegung, die viele zur Flucht aus Jerusalem veranlassen (Apg 8,1) und sogar unter den Christusgläubigen entsteht ein Streit zwischen den Gruppen der ‚Hellenisten‘ und ‚Hebräer‘. Von der in Apg 2,44– 47 und 4,32–37 erwähnten Gütergemeinschaft ist in Kapitel 6 nicht mehr die Rede. Auch wenn die große erzählerische Linienführung auf Lukas zurückgeht, sind hinter Apg 6,1–8,3 deutlich historische Konflikte innerhalb der Jerusalemer Gemeinde und zwischen Teilen der Gemeinde und dem Jerusalemer Judentum zu erkennen127.
Die ‚Zwölf‘ und die ‚Sieben‘
In Apg 6,1–7 lässt Lukas zwei Leitungsgremien auftreten: den Zwölfer- und Siebenerkreis. Die ‚Zwölf‘ erscheinen nur in Apg 6,2 (vgl. Lk 6,13; 9,1; 18,31; 22,3.30), in Apg 6,6 ist schon wieder von ‚den Aposteln‘ die Rede. Beim Zwölferkreis handelt es sich wahrscheinlich um eine von Jesus selbst eingesetzte Gruppe, die symbolisch die Gesamtheit der Zwölf Stämme Israels repräsentierte und die nach Ostern nur noch eine kurze Zeit von Bedeutung war (s.o. 5.2). Auch der Siebenerkreis war im frühen Christentum ein fester Begriff, denn Philippus wird in Apg 21,8 als „einer von den Sieben“ genannt. Die Herkunft der Zahl Sieben könnte mit der Auslegung von Dtn 16,18 zusammenhängen, denn Josephus erwähnt dazu, dass in jeder jüdischen Stadt sieben Männer regieren sollen128. Die Bildung des Siebenerkreises verbindet Lukas mit einem Konflikt innerhalb der Jerusalemer Gemeinde: „In diesen Tagen aber, da die Zahl der Jünger stark zunahm, gab es ein Murren der Hellenisten gegen die Hebräer, ihre Witwen würden bei der täglichen Almosenverteilung übersehen“ (Apg 6,1). Die Witwen der Hellenisten fühlten sich beim innergemeindlichen Bedarfsausgleich übersehen bzw. benachteiligt, was zu einem Konflikt zwischen den Hellenisten und Hebräern führte. Als Erkärung dient der Hinweis, dass die ‚Zwölf‘ mit der Doppelaufgabe von Diakonie und Verkündigung überlastet waren. Deshalb erfolgt eine erste Erweiterung der Gemeindeorganisation, indem für die Armenvorsorge sieben Männer ausgewählt und durch die Apostel eingesetzt werden. Die Darstellung des Lukas in Apg 6,1–7 enthält eine Reihe von Ungereimtheiten: 1) Es bleibt unklar, ob die Witwen der Hellenisten innerhalb eines – wegen des Wachstums der Gemeinde – neu eingerichteten Systems von Anfang an nicht berücksichtigt wurden oder in einem bestehenden System von einem bestimmten Zeitpunkt an keine Unterstützung mehr erhielten. 2) Warum wurden nur die hellenistischen Witwen übersehen? Lebten sie bereits abseits in einer eigenen Gemeinde? 3) Alle sieben ‚Diakone‘ trugen hellenistische Namen129, einer ist sogar Proselyt aus Antiochia. 4) Warum wählte man nur Hellenisten und nicht einen gemischten Kreis zur Durchführung der Armenfürsorge? 5) Besonders auffällig ist, dass im weiteren Verlauf der Apostelgeschichte Stephanus und Philippus in keiner Weise als Armenpfleger auftreten. Vielmehr handelt es sich bei beiden um geistbegabte frühchristliche Missionare. 6) Ebenso kommen die ‚Zwölf‘ ihrer angekündigten Aufgabe (Apg 6,4: „wir aber wollen beim Gebet und beim Dienst am Wort bleiben“) innerhalb der Erzählung nicht nach; sie entschwinden vielmehr und werden von den Aposteln ersetzt (vgl. Apg 6,6)130. 7) Ein Zusammenhang mit der zuvor geschilderten Gütergemeinschaft (Apg 4,32–37) wird von Lukas nicht hergestellt, obwohl er auf der Hand liegt: Wenn das Ziel dieses Programms darin lag, dass „keiner unter ihnen Mangel hatte“ (vgl. Apg 4,34), zeigt der Streit über die Witwenversorgung, dass es zumindest in der Realität so nicht funktionierte (oder gänzlich Fiktion war).
Als historisches Faktum kann der lukanischen Darstellung zunächst entnommen werden, dass es in der Jerusalemer Gemeinde schon sehr früh zwei Gruppen gab: Die ‚Hellenisten‘ und die ‚Hebräer‘. Die Begriffe
Sprache und Identität
Die Sprachunterschiede, die verschiedenen Herkunftsgebiete, die sozialen Unterschiede und eine gewisse jeweilige Eigenständigkeit innerhalb des Jerusalemer Judentums bereits vor dem Eintritt in die neue Bewegung der Christusgläubigen führten dazu, das sich schon relativ früh nach und nach zwei selbständige Gruppierungen entwickelten134. Wahrscheinlich war eine Konsequenz der sprachlichen Unterschiede die Ausbildung jeweils eigenständiger Gottesdienste. Nach Apg 2,46 versammelten sich die Gläubigen zu täglichen Gottesdiensten ‚in den Häusern‘; ein Hinweis darauf, dass sich die Jerusalemer Gemeinde aus praktischen Gründen in Hausgemeinden gliederte. Wahrscheinlich haben auch die ‚Hellenisten‘ von Anfang an eigene Hausversammlungen organisiert, in denen Gottesdienste in griechischer Sprache abgehalten wurden. Die liturgisch-kultische Trennung zog dann auch eine Trennung in der Diakonie nach sich, wie sie in Apg 6,1–7 geschildert wird. Von hieraus lassen sich auch die Schwierigkeiten bei der Armenversorgung erklären. Vermutlich wurde die Armenfürsorge ursprünglich durch die Hebräer organisiert, die dann von einem bestimmten Zeitpunkt an die hellenistischen Witwen nicht mehr mitversorgten, weil jene nicht