Neben der reichen Handschriftenbezeugung, die dem Sachkenner ein eigenes Urteil erlaubt, sind seit Nestle-Aland26 besonders die Textgestaltung und die Beigaben am äußeren und inneren Rand erwähnenswert. Direkte Zitate aus dem Alten Testament sind durch Kursivdruck hervorgehoben, und die für den Leser sehr informativen Beleg- und Verweisstellen am äußeren Rand wurden völlig überarbeitet. Die von Aland vorgenommene Strukturierung hymnischer Überlieferungseinheiten ist hilfreich, wenn auch die Abgrenzungen im Einzelnen nicht immer überzeugen.
Nestle-Aland28 (2012) stellt gegenüber der 27. Auflage wiederum eine Weiterentwicklung dar21. Die Änderungen beziehen sich vor allem auf zwei Bereiche: 1) Eine grundlegende Revision und Korrektur des kritischen Apparats. So wurde die Unterscheidung von ständigen Zeugen erster und zweiter Ordnung aufgegeben. Es werden grundsätzlich alle wesentlichen Varianten als pro et contra zitiert, die für die Konstitution eines Textes wichtig sind (= ‚positiver Apparat’). Im sogenannten ‚negativen Apparat’ werden demgegenüber nur textgeschichtliche oder texterschließende Varianten contra textum angeführt. Konjekturen werden im Apparat nicht mehr zitiert; sie sollen in einem gesonderten Verzeichnis zugänglich gemacht werden. Diese Entscheidung ist zu bedauern, denn alle in den früheren Ausgaben aufgenommenen Konjekturen waren diskussionswürdig. Bei den Abkürzungen wurde auf die ungenauen und oft irreführenden pauci (pc) und alii (al) verzichtet. Drucktechnisch klarer als bisher erfolgen die Abtrennungen innerhalb der Varianten zu einem Vers (| = trennt die Varianten zu verschiedenen Stellen des Textes innerhalb eines Verses; ¦ = trennt die Varianten zu derselben Stelle eines Textes). Gründlich durchgesehen wurde der Verweisstellenapparat am äußeren Rand. 2) Die bisherigen Ergebnisse der Editio Critica Maior wurden für die katholischen Briefe übernommen, d. h. hier erfolgten Textänderungen gegenüber der 27. Auflage (Listen auf S. 6*).
Insgesamt weist bei Nestle-Aland28 der Apparat eine klarere Struktur auf, was zu begrüßen ist. Gleichzeitig setzt sich eine Tendenz zur Spezialisierung fort, die mit dem Verzicht auf Texttypen in der 26. Auflage einsetzte. Stellt die umfangreiche pro et contra-Bezeugung für den Kenner neutestamentlicher Handschriften eine willkommene Arbeitsgrundlage dar, so muss sie doch auf die Studierenden, die über die Textkritik einen Zugang zum Novum Testamentum Graece gewinnen sollen, eher verwirrend wirken. Gaben ihnen früher die – zweifellos umstrittenen – Texttypen Hilfestellung bei textkritischen Entscheidungen, so sind heute umfangreiche Handschriftenkenntnisse notwendig, um die pro et contra-Bezeugung wirklich beurteilen zu können.
3.4.2 Huck-Greeven, Synopse der drei ersten Evangelien
Lektüre
HUCK-GREEVEN S. V–XXXVII
Wie unter 2.1.2 bereits erwähnt, hat H. Greeven die 13. Auflage der Synopse von A. Huck völlig neu bearbeitet und eine eigene Rezension des Evangelientextes vorgenommen. Der von ihm erstellte Text unterscheidet sich von Nestle-Aland26–28 durchschnittlich 9mal pro Kapitel, so dass nun zumindest für die synoptischen Evangelien ein kritischer Vergleich möglich ist. Die handschriftliche Bezeugung ist bei Huck-Greeven nicht ganz so umfangreich wie bei Nestle-Aland26–28, aber es sind alle wichtigen Textzeugen berücksichtigt worden. In einem größeren Umfang als Aland benutzt Greeven Summensigel, die auch bei ihm nicht einen Texttyp bezeichnen, sondern eine Vielzahl an Einzelangaben zusammenfassen. Dennoch setzt Greeven bei seiner Abgrenzung der Gruppen die Ergebnisse der textkritischen Stemmaforschung voraus. An dem neu erstellten kritischen Apparat von Huck-Greeven ist positiv hervorzuheben, dass alle Varianten angeführt sind, die von anderen Textkritikern als Urtext angesehen werden, und dass die bei den synoptischen Evangelien zu beobachtende Harmonisierungstendenz (besonders auf Mt hin) kritisch berücksichtigt wurde. Andererseits machen es die von Nestle-Aland26–28 gänzlich abweichenden textkritischen Zeichen dem Studierenden schwer, sich in die Synopse einzuarbeiten.
3.5 Textkritische Grundkenntnisse
3.5.1 Die Bezeichnung der neutestamentlichen Textzeugen
Eine systematische Erfassung und Bezeichnung der neutestamentlichen Textzeugen führte als erster 1751/52 JOHANN JAKOB WETTSTEIN durch. Er unterschied Majuskeln (Bezeichnung mit großen Buchstaben: A = Codex Alexandrinus, B = Codex Vaticanus), Minuskeln (Zählung mit arabischen Ziffern) und Lektionare (Zählung wie bei den Minuskeln). Das bis heute gültige System der Zählung und Bezeichnung neutestamentlicher Handschriften führte 1908 der Tischendorf-Schüler C. R. GREGORY ein. Danach werden Papyri durch ein vorgesetztes P gekennzeichnet, Majuskeln durch eine vorgesetzte 0, Minuskeln und Lektionare werden durchgezählt, wobei ein l vor die Ziffer der Lektionare gesetzt wird.
3.5.2 Die Gliederung der neutestamentlichen Textzeugen
Die neutestamentlichen Handschriften können nach ihrem Inhalt, ihrer Schriftform oder ihrem Beschreibstoff gegliedert werden. Am gebräuchlichsten ist eine kombinierte Untergliederung in Papyri, Majuskeln, Minuskeln und Lektionare, wobei beachtet werden muss, dass sowohl Papyri als auch Pergamenthandschriften Majuskeln sind und sich unter den Lektionaren auch Papyri befinden.
Die ältesten neutestamentlichen Handschriften sind Papyri. Der Papyrus ist eine vornehmlich im Nildelta wachsende Sumpfpflanze, die schon seit dem 3. Jahrtausend v.Chr. als Schriftträger verwendet wurde. Die Papyri (Stand 2012: 127 Papyri) sind für die neutestamentliche Textkritik nicht nur wegen ihres hohen Alters, sondern vor allem aufgrund ihrer guten Textqualität von großer Bedeutung. Besonders wertvoll und wichtig sind die Chester-Beatty-Papyri P45 P46 P47 und die Bodmer Papyri P66 P72 P74 P75. Eine der ältesten neutestamentlichen Handschriften P52 enthält Joh 18,31–33.37–38 und ist in das 2. Jh. zu datieren.
Bereits auf Pergament geschrieben sind die großen Bibelhandschriften des 4. und 5. Jh. (Majuskeln). Das aus den Häuten von Kleinoder Jungtieren (Ziege, Schaf, Esel) bestehende Pergament (gr. περγαμηνή) hat seinen Namen von König Eumenes von Pergamon, der 197–159 v.Chr. regierte und für seine Bibliothek dieses neue Schreibmaterial entwickelt haben soll. Das sehr beständige Pergament trat schon im 2. Jh. v.Chr. in Konkurrenz zum Papyrus und hielt sich als Schreibmaterial bis ins Mittelalter.
Die Majuskeln bestimmten die Textkritik bis weit ins 20. Jh. Von den bis heute verzeichneten 303 Majuskeln sind fünf besonders wichtig:
1.
01 Codex SinaiticusDieser im Katharinenkloster am Sinai von C. v. Tischendorf entdeckte Kodex (1854 und 1859) enthält das gesamte Neue Testament und große Teile des Alten Testaments. Er wurde im 4. Jh. auf Pergament (Antilope) geschrieben und später teilweise mit Änderungen und Korrekturen versehen. Der Sinaiticus gehört im Wesentlichen zum alexandrinischen Texttyp und ist eine der wichtigsten neutestamentlichen Majuskeln, obwohl Tischendorf seine Bedeutung überschätzt hat.
Faksimileausgabe: D. Parker, Codex Sinaiticus: Facsimile Edition, Peabody 2011.
2. A 02 Codex Alexandrinus
Aus dem 5. Jh. stammt dieser Kodex, der das Alte Testament und den größten Teil des Neuen Testaments (es fehlen Mt 1,1–25,6; Joh 6,50–8,52; 2Kor 4,13–12,6) enthält. Die Handschrift ist seit dem 11. Jh. in der Bibliothek des Patriarchen von Aleaxandria nachweisbar und wurde 1627 dem englischen König geschenkt. Der Wert des Textes schwankt; ist er für die Evangelien