Große Bedeutung für die Erforschung des neutestamentlichen Textes hat der Leipziger Neutestamentler CONSTANTIN VON TISCHENDORF (1815–1874). Er entdeckte im Katharinenkloster am Sinai den ‚Codex Sinaiticus‘ (1844/1859)13 und legte diese im 4. Jahrhundert entstandene Majuskel seiner großen und bis heute wertvollen Edition zugrunde (,Editio octava critica maior‘, 1869–1872). Internationale Anerkennung errang die von den Engländern B. F. WESTCOTT (1825–1901) und F. J. HORT (1828–1892) veröffentlichte NT-Ausgabe (1881/1882), die sich durch eine zuverlässige Textrekonstruktion und einsichtige methodische Kriterien auszeichnet. Wichtig sind für die neutestamentliche Textkritik die Unterscheidungen, die Westcott-Hort bei ihrer Erforschung der Verwandtschaft zwischen den einzelnen Textzeugen trafen. Danach gibt es vier Haupttypen neutestamentlicher Texte: 1. den westlichen Text (Hauptvertreter ist der ‚Codex Bezae‘ D 05); 2. den alexandrinischen Text (Hauptvertreter ‚Codex Ephraemi‘ C 04 und ‚Codex Regius‘ L 019); 3. den neutralen Text (Hauptvertreter ‚Codex Sinaiticus‘
01 und ‚Codex Vaticanus‘ B 03); 4. den syrischen Text (Hauptvertreter ‚Codex Alexandrinus‘ A 02) 14.Den modernen ‚textus receptus‘ schuf EBERHARD NESTLE (1851–1913) mit seinem im Auftrag der Württembergischen Bibelanstalt 1898 veröffentlichten ‚Novum Testamentum Graece‘. Nestle verzichtete bewusst auf eine eigene Textfassung und legte seiner Ausgabe die drei großen wissenschaftlichen Editionen des 19. Jahrhunderts zugrunde, nämlich Tischendorf (T), Westcott-Hort (H) und zunächst R. F. Weymouth, an dessen Stelle seit der 3. Auflage (1901) die Ausgabe von B. Weiß (W) trat. In seinem ‚apparatus criticus‘ berücksichtigte Nestle nicht nur die abweichenden Lesarten von HTW, sondern in einem zweiten Apparat auch Lesarten von neutestamentlichen Handschriften. Die Berücksichtigung der Originalzeugen wurde durch den Sohn ERWIN NESTLE (1883–1972) und durch KURT ALAND (1915–1994), seit der 21. Aufl. von 1952 Mitherausgeber) ständig ausgebaut, wobei insbesondere neugefundene Papyri von großer Bedeutung waren.
Bis zur 25. Aufl. von 1963 setzte auch Nestle-Aland durch Handschriftenfamilien repräsentierte Texttypen voraus, wobei bis in die Gegenwart hinein vier Haupttextformen des neutestamentlichen Textes unterschieden werden15:
1. Der neutrale (oder ‚alexandrinische’ bzw. ‚hesychianische’) Text (Nestle25:
)Dieser vor allem durch die Majuskeln
01, A 02, B 03, C 04 (A und C allerdings nicht für die Evangelien) und hervorragende Papyri (z.B. P66 P75 für die Evangelien, P46 für die Paulusbriefe) repräsentierte Texttyp wird als ‚neutraler‘ Text bezeichnet, weil Westcott-Hort ihn für einen unrevidierten Text hielten. ‚Alexandrinisch‘ wurde der Text genannt, weil ihn auch die alexandrinischen Väter Klemens, Origenes, Dionysius und Cyrill von Alexandrien bieten. Durch W. Bousset wurde die Bezeichnung ‚hesychianischer Text‘ eingeführt, da er den von Hieronymus erwähnten Bischof Hesychius (‘Ησύχιος) von Alexandrien mit diesem Texttyp in Verbindung brachte. Durch Einwirkung der Koine entwickelte sich im Lauf der Jahrhunderte der alexandrinische Text zum ägyptischen Text weiter.2. Der westliche Text
Wie schon der Name andeutet, ist dieser Texttyp vor allem im westlichen Mittelmeerraum bezeugt. Er liegt vor in den griechisch-lateinischen Handschriften D 05, D 06, F 010, G 012 sowie in der altlateinischen Übersetzung und in lateinischen Kirchenschriftstellern. Relativ früh ist er aber auch in Ägypten und dem Osten nachweisbar (syc.s.). Charakteristisch für den westlichen Text ist seine Vorliebe für die Paraphrase (vor allem in der Apg). Bei Übereinstimmung mit dem alexandrinischen Text ist der westliche Text von hohem Wert, sonst aber eher von geringerer Bedeutung.
3. Der Koinetext (Nestle25:
)Der wegen seiner allgemeinen (= κοινή) Verbreitung so genannte Text (auch byzantinischer oder Reichstext genannt) wird vor allem durch die Majuskeln A 02 (nur für die Evangelien), E 07, F 09, G 011, H 013 und die überwiegende Mehrzahl der Minuskeln bezeugt. Hatte Hort diesen Texttypus, der seit dem 4. Jh. vorherrscht und sehr wahrscheinlich auf eine frühere Rezension zurückgeht, für völlig wertlos erklärt, so setzte sich in neuerer Zeit vor allem durch die Übereinstimmung einzelner Lesarten des Koinetextes mit neu entdeckten Papyri die Erkenntnis durch, dass auch dieser Text alte Lesarten bewahrt hat. Charakteristisch ist für den Koinetext die Glättung sprachlicher Härten, die inhaltliche Harmonisierung und das angestrebte gute Griechisch.
4. Der Cäsareatext
Die Bezeichnung ‚Cäsareatext‘ erklärt sich aus der Vermutung von B. H. Streeter, dass Origenes diesen Text nach seiner Übersiedlung von Alexandria nach Cäsarea verwendet habe und diese Textform dort auch entstanden sei. Nach neueren Untersuchungen16, vor allem zu P37 und P45, soll Origenes diesen Texttyp neben dem alexandrinischen Text schon in Alexandria und dann in Cäsarea benutzt haben. Von besonderer Bedeutung ist der Cäsareatext für Mk durch die Majuskeln Θ 038, W 032, die Minuskeln 28.565.700 und die Minuskelfamilien f1 und f13.
Während die Existenz eines alexandrinischen und Koine-Textes als gesichert gelten kann, ist in der Forschung umstritten, ob es den westlichen Text und den Cäsareatext wirklich gegeben hat17.
3.4 Der gegenwärtige Stand der Textkritik
3.4.1 NESTLE-ALAND, Novum Testamentum Graece27.28 (Ausgaben 2001/2012) 18
Lektüre
NESTLE-ALAND27 S. 1*–43* oder NESTLE-ALAND28 S. 1*–45*
Stand bisher die Erforschung der Abhängigkeitsverhältnisse einzelner Handschriften, die Zusammenfassung von Handschriften zu Texttypen und die Erhellung der Textgeschichte im Mittelpunkt neutestamentlicher Textkritik, so bringt Nestle-Aland26.27 (1979/1993) einen Neuansatz: Die bisherigen Gruppensigla für den hesychianischen Text
wurden aufgegeben und stattdessen eine die jeweiligen einzelnen Handschriften erfassende pro et contra-Bezeugung eingeführt. Zur Begründung dieser einschneidenden Änderung macht Aland geltend, dass insbesondere die Gruppenbezeichnung ein Problem darstelle, weil die unter diesem Zeichen zusammengefassten Handschriften in ihrer Textüberlieferung sehr uneinheitlich seien. Für die pro et contra-Bezeugung wurde das handschriftliche Material erheblich erweitert, wobei insbesondere die Angabe der als ‚ständige Zeugen‘ herangezogenen Handschriften hervorzuheben ist (vgl. Nestle-Aland27 S. 16*–22*). Als textkritische Konzeption steht hinter der pro et contra-Bezeugung die sog. ‚lokalgenealogische Methode‘, welche nicht mehr aufgrund eines Familienstammbaums, der die chronologischen und genealogischen Abhängigkeiten einzelner Handschriften darstellt, ihre textkritischen Entscheidungen trifft, sondern von Fall zu Fall (,eklektisch‘)19 der unterschiedlichen Wertigkeit einer Handschrift zu verschiedenen Textstellen Rechnung trägt.