Die bisherigen Bemerkungen sollten deutlich gemacht haben, dass die Frage nach dem »Werden des Apostolikums« von der Existenz einzelner Textzeugen ausgehen muss, die teils unmittelbar durch die handschriftliche Überlieferung, teils in indirekter Bezeugung in späteren literarischen oder liturgischen Kontexten zugänglich sind. Wir müssen also beachten, was in welcher Zeit und in welchem geographischen Raum »wurde« und wo sich Ähnlichkeiten, ja Konvergenzen ergeben. Um bei den bisher genannten Texten zu bleiben: Diese werden in der Forschung übereinstimmend in Gallien verortet; daher kam Pirmin, und dort entstand auch das bereits erwähnte, in der Collectio Gallica Vetus erhaltene Sakramentar, in das vielleicht schon in der Mitte des 7. Jahrhunderts der Textus receptus des Apostolikums eingefügt wurde. Auch hier spricht nicht Matthias, sondern Thomas den letzten Satz.[8] John N.D. Kelly hat vor fast einem halben Jahrhundert mit Blick auf das mehrfache frühe Auftreten dieses Textes die These vertreten, dass das Apostolikum in seiner später universal gültigen Form im Laufe des 7. Jahrhunderts in Südwestgallien entstanden sei; im Zuge der Reformmaßnahmen in der Zeit Karls des Großen sei es im Frankenreich als Taufbekenntnis quasi kanonisiert und im 10. Jahrhundert auf fränkischen Druck dann auch – »endlich!«, so |21|mag man zwischen den Zeilen lesen – in Rom übernommen worden.[9] Ob der Überlieferungsbefund eine so eindeutige Lokalisierung zulässt, ist allerdings fraglich. Es bieten sich auch andere Kandidaten an: Den ersten Text, der der später normativen Fassung erkennbar ähnelt und der in der Forschung klassischerweise als »Romanum« bezeichnet wird, findet man schon im 4. Jahrhundert, allerdings ausgerechnet in einem im Jahr 341 nach Rom gerichteten Brief und obendrein in griechischer Sprache. Ob mit dieser Schrift etwas Neues nach Rom kam oder im Gegenteil etwas Römisches durch einen in Rom um Hilfe nachsuchenden Kleinasiaten zitiert wurde, ist Thema einer angeregten Forschungskontroverse in jüngerer Zeit und wird unten eingehender diskutiert werden.
In den Jahrhunderten zwischen diesem ersten Auftreten des Romanums und der textlichen Stabilisierung des Apostolikums bieten die Quellen eine regionale Vielfalt von mehr oder weniger voneinander abweichenden Texten des Glaubensbekenntnisses, das den Aposteln zugeschrieben wird. Liuwe Westra hat vorgeschlagen, diese Varianten als konkrete regionale »Typen« zu verstehen.[10] Das erklärt manches, aber nicht alles. Mögen auch, wie schon Kelly betonte, die Zeugen für den späteren Textus receptus überwiegend aus Gallien stammen, so trifft dies für den ersten bekannten Zeugen der Zuweisung einzelner Sätze an die Zwölf nicht zu: Es handelt sich um eine anonyme Schrift aus dem 5. oder 6. Jahrhundert, die weder in Rom noch in Gallien, sondern in Norditalien entstand. Unter dem Titel »Über den Glauben an die Trinität, auf welche Weise man ihn auslegt«[11] beginnt dieser Text mit einer Einleitung, die wörtlich mit den ersten Sätzen des Athanasianums übereinstimmt,[12] lässt dann das »apostolische« Credo folgen und schließt mit einer Reflexion der |22|Trinität, die stark an das Nizäno-Konstantinopolitanum erinnert und in knapper Form das entfaltet, was man als lateinischen Neunizänismus bezeichnen kann.[13] Diese Zusammenstellung erinnert an das Neben- und Miteinander der tria symbola Apostolikum, Athanasianum und Nizänum in den lutherischen Bekenntnisschriften, nur dass hier alle drei Zugänge zum Glauben in einen textlichen Zusammenhang gebracht werden. Für das frühe Mittelalter ergibt sich damit ein wichtiger Hinweis: Auf unterschiedliche Weise entstandene Texte werden zusammen gelesen und ergeben ein de facto nicht spannungsfreies, aber offenbar als kohärent wahrgenommenes Ensemble, und zwar insgesamt mit apostolischer Autorisierung. Wir müssen also nicht nur zwischen verschiedenen Textvarianten und -formen des werdenden Apostolikums unterscheiden, sondern auch die Einbettung dieser Texte in ihre Kontexte bedenken, denn ein apostolisches Pedigrée wurde offensichtlich auch weiteren Texten zugeschrieben.
Damit dürften hinreichend Warnschilder aufgestellt sein, um endlich in medias res gehen zu können. Im Folgenden will ich dem Werden des Apostolikums in drei Schritten nachspüren: Ein erster Gang führt uns vom apostolischen Kerygma zur Entstehung als apostolisch deklarierter Glaubensbekenntnisse (Abschnitt 2.). Sodann kommen frühe Formen des späteren »Apostolikums«, insbesondere das jüngst wieder diskutierte »Romanum« in den Blick; es ist dabei zu fragen, ab wann wir mit welchen Gattungen rechnen können und wo »Römisches« und »Apostolisches« zusammenfinden (Abschnitt 3.). Schließlich muss untersucht werden, was dem Glaubensbekenntnis vom frühchristlichen Kerygma bis zum »fertigen« Apostolikum an Glaubensgehalten zugewachsen ist – das ist vor allem eine entfaltete Summe des Christusgeschehens, aber auch die communio sanctorum (Abschnitt 4.).
Ich stütze mich bei alledem auf neuere Forschungen zu den Glaubensbekenntnissen aus dem zurückliegenden Vierteljahrhundert, insbesondere aber auf die 2017 erschienene, umfassende Quellensammlung »Faith in Formulae« von Wolfram Kinzig und auf dessen |23|weitere Arbeiten, denen nicht nur die Erschließung und Einordnung bisher unbeachteten Materials, sondern auch neue Erkenntnisse und Hypothesen zum Thema zu verdanken sind.[14] Doch stellt gerade die erwähnte Quellensammlung die Komplexität der Überlieferungs- und Interpretationsgeschichte vor Augen und macht en passant deutlich: Über das Apostolikum und seine zahlreichen Verwandten ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Es kann naturgemäß auch im begrenzten Rahmen dieses Beitrags nicht gesprochen werden. Was Dichtung und was Wahrheit des Apostolischen am Apostolikum ist, hoffe ich freilich aufzeigen zu können; damit den Rahmen für die weiteren Beiträge im vorliegenden Band abzustecken, ist das Ziel meines Beitrags, weshalb dessen Einsichten in der Schlussbemerkung (5.) noch einmal pointiert zusammengefasst werden.[15]
2. Vom apostolischen Kerygma zu apostolischen Glaubensbekenntnissen
2.1. Das eine Symbolum und die vielen Apostel
Die Vorstellung, die auf dem Göttinger Barfüßeraltar dokumentiert ist, dass die zwölf Apostel je einen Satz zum authentischen Bekenntnis des christlichen Glaubens beisteuerten, begegnet – wie gesagt – erst am Ausgang der Spätantike. Der Gedanke einer gemeinsamen Verantwortung der Apostel für den von ihnen zu verkündigenden Glauben und seine Formulierung ist jedoch erheblich älter. Das Missionsnarrativ der Apostelgeschichte wurde seit dem 2. Jahrhundert |24|einerseits im Blick auf das individuelle Geschick der ersten Jünger Jesu fortgeschrieben – das Ergebnis ist das Corpus der sogenannten apokryphen Apostelakten.[16] Doch gilt schon dem 1. Clemensbrief (verfasst um das Jahr 100 n. Chr.) auch die kollektive Tätigkeit der Apostel als fundamental für die Ausbreitung des Evangeliums:
»(Die Apostel) wurden durch die Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus mit Gewißheit erfüllt und durch das Wort Gottes in Treue gefestigt, zogen dann mit der Fülle des Heiligen Geistes aus und verkündeten die frohe Botschaft vom Kommen des Gottesreichs.«[17]
Ein Dreivierteljahrhundert später stellt Irenaeus von Lyon († nach 190 n. Chr.) fest, die christliche Wahrheit sei nirgendwo anders als in der Kirche zu finden, »denn die Apostel haben in ihr wie in einem großen Vorratsraum