Das Buch Jesaja. Ulrich Berges. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Berges
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846346471
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redaktionellen Anonymität, die ihn exegetisch zur Bedeutungslosigkeit verurteilt hätte, zu bewahren. Oder umgekehrt: Man kann den Text nicht als redaktionell gelten lassen, weil er bedeutend ist, und schafft daher künstlich die Prophetengestalt des ›Deuteroisaias‹.«23 Dieses Festhalten an der individuellen Gestalt des Propheten wurde sicherlich auch durch den Druck der kirchlichen Dogmatik befördert, die für ihre Inspirationslehre biographisch fassbare Personen als erforderlich erachtete.24

      Die Annahme kollektiver Verfasserschaften ist nur auf den ersten Blick ungewöhnlich, und zwar dann, wenn es prophetische Texte betrifft. Bei der Erforschung des Pentateuchs sind die priesterlichen, nicht-priesterlichen und deuteronomischen Traditionen nie als das Ergebnis individueller Autoren verstanden worden. Hinter den Deuteronomisten und den Verfassern des Chronistischen Geschichtswerkes stehen gleichermaßen theologische Gruppen und keine Einzelpersonen. Bei den Psalmen werden die Sängergilden, die für einzelne Lieder und Liedsammlungen verantwortlich waren, zum Teil namentlich genannt (Korachiter: Ps 42–49; 84–85; Asafiten: Ps 50; 73–83; vgl. Jeduthun: Ps 39; 62; 77; Heman: Ps 88; 1 Chr 16,41–42; 25,1–6). Das Wissen um kollektive Verfasserschaften hat sich in der jüdischen Tradition erstaunlicherweise erhalten, wie der babylonische Talmudtraktat Baba bathra 14b–15a deutlich zeigt. Dort heißt es unter anderem, Hiskija und sein Kollegium hätten Jesaja, Sprüche, das Hohelied und Kohelet geschrieben.25

      Die Ansicht, hinter den Autoren des Jesajabuches stünden Kollektive, hatte sich zunächst an der Vorstellung einer Jesaja-Schule26 festgemacht, sowie an der einer Deuterojesaja-Schule.27 Für erstere ist es durchaus plausibel und für die Überlieferungsbildung wohl unerlässlich, von einer Tradentengruppe am Ende des 7. Jh. auszugehen, die besonders für eine erste Abfassung der sogenannten Immanuelschrift in Jes 6–8 verantwortlich zeichnete. In Bezug auf Kap. 40–66 hätten die Schüler des großen exilischen Anonymus seine Worte bewahrt, fortgeschrieben und in die jetzige Endfassung gebracht. Demnach wäre Deuterojesaja nicht die Einzelfigur im Sinne von Duhm gewesen, sondern als »chef du groupe« aufgetreten28, dessen Botschaft nach seinem Tod von seinen Schülern gesammelt und herausgegeben worden sei.29 Diese Hypothese hat aber mit der Rückfrage zu kämpfen, warum dessen Name so konsequent verschwiegen worden wäre. Zudem lässt sich in 40ff. keine Auftrittsszene eines Propheten entdecken, ganz im Gegensatz zum ebenfalls exilischen Ezechiel (vgl. Ez 1,1; 24,1; 26,1; 29,1). Konträr zum Ezechielbuch, wo viele Texteinheiten mit »das Wort JHWHs erging an mich« (u.a. 6,1; 7,1; 12,1.8) eingeleitet werden, fehlt dies in 40ff. völlig (zu 40,6; 48,16, siehe die Auslegung). Die 1. Person Singular im zweiten und dritten Gottesknechtslied (49,1ff.; 50,4ff.) kann diese Lücke nicht füllen, denn hier dominiert eine formgebundene Sprache, die keine Rückschlüsse auf eine historische Einzelperson zulässt.30 Dass das Leiden des Knechts im vierten Gottesknechtslied (52,13ff.) nicht auf das Martyrium eines anonymen Propheten auszulegen ist31, hatte bereits Julius Wellhausen unterstrichen: »Die Annahme ist abenteuerlich, daß im Exil ein unvergleichlicher Prophet, womöglich von seinen eigenen Landsleuten, zum Märtyrer gemacht, dann aber verschollen wäre. Die Aussagen passen auch nicht auf einen wirklichen Propheten. Der hat nicht die Aufgabe und noch weniger den Erfolg, alle Heiden zu bekehren.«32

      So gewinnt in den letzten Jahren die Ansicht immer mehr an Boden, dass sich aus Jes 40–66 keine prophetischen Einzelgestalten ableiten lassen.33 Im Mittelpunkt steht der Text selbst, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er mehr als andere prophetische Schriften eine dramatisch fortschreitende Entwicklung aufweist. Vom Anfang bis zum Ende geht es um Jerusalem und Zion als Zentrum und Ziel der Gottesherrschaft über Israel und die Völker. Dieses Drama der Reinigung und Bedrohung, der Gerichtsansagen und Heilsankündigungen kreist in immer neuen Anläufen um die Zukunft der Gottesstadt, dem Ziel der Geschichte JHWHs mit seinem Volk und den Völkern.

      Wie immer man die Gesamtanlage des Jesajabuches bewertet und welche Entwicklungsstufen auch vorgeschlagen werden, auf die Annahme professioneller Schriftgelehrter kann heutzutage kein Erklärungsversuch mehr verzichten. Odil Hannes Steck, der sich wie kaum ein anderer um das Phänomen der schriftgelehrten Prophetie verdient gemacht hat, charakterisiert diese Literaten folgendermaßen: »Fachleute, geschulte und sich schulende Insider, die ihre Schriften im Dienste fließender Relecture aufs genaueste in Abfolge und Aussage kennen – professioneller Autoren- und Leserkreis in einem. Erst nach der Kanonisierung, als der Fluß produktiver Relecture zum Stehen gekommen war, wird dies anders und kann exegetisch vereinzelndem Gebrauch bis hin zu atomistischer Auslegung weichen. Zuvor jedoch sind es Fachleute, die ganze Bücher und Bücherfolgen betreuen.«34 Sie waren keine Autoren im modernen Sinne, sondern Begründer theologischer Diskurse und Diskursgemeinschaften, die miteinander in Kontakt und mitunter auch in Konkurrenz zueinander treten konnten: »Nebeneinander, aber nicht unabhängig voneinander existierten schulmäßig funktionierende Diskurse der Fortschreibung als Auslegung autoritativer Worte, die dem jeweiligen Diskursgründer zugeschrieben wurden. Während für die priesterliche Schriftgelehrsamkeit Mose als Diskursgründer galt, dem auch die nachexilischen fortschreibenden Auslegungen seiner Worte aus vorexilischer und exilischer Zeit in Deuteronomium und Priesterschrift in den Mund gelegt und damit autorisiert wurden, wurden in Kreisen der Tradentenprophetie Worte der prophetischen Diskursgründer eines Jesaja, Jeremia oder Ezechiel fortschreibend ausgelegt und diesen Diskursgründern in den Mund gelegt und erhielten so ihre Legitimation durch die prophetische Autorität in Konkurrenz zu Mose Funktion, Offenbarungsmittler göttlicher Worte zu sein.«35

      Für Kap. 40–66 bietet sich das Paradigma schriftgelehrter Prophetie auch deshalb so sehr an, weil gerade diese Kapitel eine Vielzahl von alttestamentlichen Überlieferungen und Motiven aufnehmen und aktualisieren. Dazu gehören die Väter- und Exodustradition, die prophetische Gerichtsverkündigung, jesajanische Ausdrücke wie der »Heilige Israels«, Anleihen aus Jeremia und Ezechiel sowie die deuteronomische Worttheologie. Dazu kommen noch Jerusalemer Topoi wie Zion und David, sowie die priesterschriftliche Verknüpfung von Schöpfung und Geschichte und die Tradition der Psalmen mit ihrer starken Fokussierung auf den Gottesberg und die Gottesstadt.36 Die Vernetzung und kreative Ausgestaltung all dieser Traditionen kann nicht das Werk einer einzelnen prophetischen Person sein, sondern ist das Ergebnis intensiver Traditionspflege durch literarisch geschulte Kreise, die auf babylonischem Boden beginnend im Aufkommen der persischen Weltmacht das Heilszeichen JHWHs für einen Neubeginn und die Rückkehr zum Zion erblickten.

      Für die ca. 400 Jahre andauernde Entstehungsgeschichte des Jesajabuches (700–300) lassen sich mit aller gebotenen Vorsicht einige Kernphasen der Verschriftung bestimmen. Das Fundament legten Jesaja ben Amoz und sein Schülerkreis, den dieser während der syrisch-efraimitischen Krise (734–732) um sich sammelte. Die jüdische Tradition hält seinen Vater »Amoz« (nicht zu verwechseln mit »Amos«) für einen Bruder des Königs Amazja (796–781), dem Vater Usijas, so dass Jesaja ein Neffe des judäischen Königs gewesen wäre, in dessen Todesjahr er seine Sendung zum Propheten empfangen hätte (bMegilla 10b). Wenn diese Tradition auch nicht zu beweisen ist, so spricht sie doch für eine große Nähe Jesajas zum Königshaus und zur Sphäre der Innen- und Außenpolitik.

      Nach Jes 6,1 fällt die Vision der Herrlichkeit JHWHs im Jerusalemer Heiligtum, die Reinigung und Sendung des Propheten in das Todesjahr Usijas, so dass damit – bei aller Unsicherheit der unterschiedlichen Chronologien – ungefähr das Jahr 734 erreicht ist. Für die Auslegung der ersten Kapitel ist dies nicht nur ein geschichtliches Datum, sondern auch ein strukturell wichtiges Element, denn die Sendung des Propheten findet – anders als z.B. bei Jeremia und Ezechiel – nicht bereits zu Beginn des Buches, sondern erst nach dem Vorspann der Kapitel 1–5 statt. Somit folgt der Verstockungsauftrag (6,9ff.) in der Textchronologie den ersten Kapiteln nach, in denen der Prophet seinen Zuhörern die Alternative »Gericht oder Heil« in aller Deutlichkeit vor Augen geführt hat. Der Auftrag an den Gottesmann, das Herz des Volkes zu verhärten, trifft die Adressaten weder unschuldig noch unvorbereitet!

      In den Anfangsjahren der Verkündigung hat sich Jesaja vor allem innenpolitisch geäußert. Dabei stellt er durchaus eine heilvolle Zukunft in Aussicht, aber nur unter der Bedingung einer wirklichen Verhaltensänderung