Das Buch Jesaja. Ulrich Berges. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Berges
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846346471
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er zersägt worden sein soll (vgl. Hebr 11,37).

      Dass das Jesajabuch seit frühester Zeit als eine einheitliche Schrift rezipiert und überliefert wurde (LXX; Qumran; NT; Patristik), kann nicht verwundern. Schon der Sirazide preist Jesaja im Lob der Väter als großen und zuverlässigen Seher (Sir 48,22–25), der dem todkranken König Hiskija das Leben verlängerte (Jes 39) und die Trauernden Zions tröstete (Jes 40): »Für fernste Zeit verkündete er das Kommende und das Verborgene, bevor es geschah« (Sir 48,25). Dass Jesaja in Jes 1,1 als derjenige vorgestellt wird, der die »Schauung schaut«, ist ein wichtiges Indiz für die Rezeption dieses Propheten in der Schriftrolle selbst. Dabei zielt die Überschrift nicht auf die Verfasserschaft Jesajas im eigentlichen Sinne ab, sondern auf seine Autorität, die dieser Schrift zugrunde liegt. Interessanterweise hält der babylonische Talmud Jesaja gar nicht für den Verfasser der Rolle, sondern Hiskija und sein Kollegium, die zudem das Buch der Sprüche, das Hohelied und Kohelet verfasst haben sollen (Baba bathra 14b–15a). Damit scheint bereits eine editorische Tätigkeit durch, für die keine Einzelperson, sondern ein Kollektiv verantwortlich zeichnet. Einer der Faktoren für die Annahme einer kollektiven Verfasserschaft lag sicherlich in der Zeitspanne, die sich von der assyrischen bis in die Zeit der Perser erstreckte. Wahrscheinlich war schon der frühjüdischen Tradition aufgegangen, dass der historische Jesaja den Perserkönig Kyrus kaum namentlich angekündigt haben konnte (Jes 44,28; 45,1). Darauf deutet auch der rabbinische Homilien-Midrasch Pesiqta de Rav Kahana 16,10 aus dem 5. Jh. n.Chr. hin, wo die Frage gestellt wird, warum es in Jes 40,1 nicht wie sonst Gott »hat gesagt« (

), sondern Gott »sagt« (
) heiße. Damit wird betont, dass Gott weiter redet, obschon der Prophet von der Bühne abgetreten ist. Noch expliziter geht der jüdische Gelehrte Abraham Ibn Ezra auf dieses besondere Phänomen des Jesajabuches ein, das darin besteht, dass der Prophet ab der Mitte (ab 39) gar nicht mehr vorkommt und auch gar nicht mehr auftreten kann. Denn er hätte ja über 200 Jahre alt werden müssen, um die Zeit der Befreiung aus Babel durch die Perser mitzuerleben! In seinem 1145 im italienischen Lucca verfassten Jesaja-Kommentar meint Ibn Ezra, man solle sich in dieser Frage am Buch Samuel orientieren, denn auch dieser habe sein Buch nur bis 1 Sam 25,1 geschrieben, wo von seinem Tod berichtet wird. Wohl aus Rücksicht auf die jüdische Orthodoxie hatte der mittelalterliche Exeget nicht noch deutlicher gesagt, dass Jesaja nicht der Verfasser der ganzen Schrift gewesen sein könne.

      Der geschichtliche Graben, der zwischen dem historischen Jesaja und der in Jes 40ff. vorausgesetzten Zeit des Exils und des Nachexils liegt, ließ sich mit dem Aufkommen der historisch-kritischen Bibelauslegung nicht mehr mit dem Hinweis auf die Überschrift »Vision Jesajas« überbrücken. Hätte Jesaja ben Amoz nur mit vagen Andeutungen auf die Zukunft verwiesen, wäre das vielleicht noch zu tolerieren gewesen, aber mit »Kyrus« (559–530) war der Begründer des persischen Großreiches namentlich genannt worden. Zum Vergleich: was sollten heutige Adressaten mit der Information anfangen, im Jahre 2150 werde eine wichtige Persönlichkeit die Weltgeschichte beeinflussen? Dass der historische Jesaja die assyrische Bedrohung mit Scharfblick wahrgenommen hat und theologisch interpretierte, bedarf keiner Begründung. Dass er darüber hinaus das Ende des babylonischen Exils durch die Perser ankündigte, ist historisch unhaltbar. Der garstige Graben der Geschichte lässt sich auch nicht mit dem Verweis auf die besondere Qualität der Schrift überspringen, wie dies mancherorts noch versucht wird: »Isaiah of Jerusalem did indeed predict the Babylonian exile, and in so doing showed how the towering theology that he applied to events in his own lifetime would become even more towering in relation to those new situations that he could see in outline, but not in detail«.10 Der geschichtliche Graben zwischen dem Propheten vom Ende des achten Jahrhunderts und der exilisch-nachexilischen Zeit lässt sich auch nicht durch die Vorstellung einer Verbalinspiration zuschütten, nach dem Motto: wenn Gott durch seine Propheten Vorhersagen machen will, kann ihm das keiner verbieten!

      So ist es nicht verwunderlich, dass die historische Bibelkritik gerade bei dieser Problematik ansetzte.11 Hier trafen traditionelle Schriftauslegung und historischkritische Rückfrage ganz unversöhnlich aufeinander. So schreibt Johann Christoph Döderlein (1746–1792), Professor an der fränkischen Universität zu Altdorf: »Die Dogmatik der Christen kann nicht die Dogmatik der Zeitgenossen des Esaias seyn, und wo Cyrus beschrieben ist, da denke ich nicht an den Meßias.«12 Danach stellt er die entscheidende Frage, »ob es nicht glaublich sey, daß dieser ganze Abschnitt erst während des Babylonischen Exils sey niedergeschrieben worden«. Erst in der dritten Auflage seines Jesaja-Kommentars formuliert Döderlein explizit die These, dass die Buchrede (»oratio«) ab Kap. 40 nicht von Jesaja stamme, sondern am Ende des Exils von einem anonymen bzw. homonymen, also gleichnamigen Propheten geschrieben worden sei. Auch betont er, dass die Namenlosigkeit des Verfassers dem Ansehen von Jes 40–66 keinen Abbruch tue, denn die Autorität hänge ja nicht vom Verfasser ab, sondern vom Inhalt der Schrift und ihrem Nutzen für das Gottesvolk in einer konkreten geschichtlichen Situation. Dies ist in Exegese, Theologie und Kirche allzu oft überhört worden, denn nicht die Boten stehen im Zentrum der alttestamentlichen Schriften, sondern die Botschaft selbst ist entscheidend.

      Zu wirklicher Popularität gelangte die These von Döderlein erst durch den großen Jesaja-Kommentar von Bernhard Duhm aus dem Jahre 1892. Darin spricht dieser zum einen die vier Gottesknechtslieder und die Götzenpolemiken dem exilischen Anonymus ab und weist zum anderen die Kapitel 56–66 einem dritten, noch späteren Propheten zu, den er der Einfachheit halber »Tritojesaja« nennt. Damit hat sich Duhm nicht nur als Erfinder von »Tritojesaja« in der Forschungsgeschichte verewigt, sondern auch als der Exeget, der dem Anonymus von Döderlein einen Namen gab, nämlich »Deuterojesaja«. Die alternative Ansicht, Jes 40–66 stelle eine Anthologie vieler anonym gebliebener Autoren dar, war damit auf lange Zeit marginalisiert.13 Vor dem Hintergrund einer romantischen Idee des wahren Propheten entwirft Duhm ein lebendiges Bild von »Deuterojesaja«, den er aber wegen der Vorliebe für Baumsorten und Küstenstreifen weder in Babylonien noch in Juda, sondern im Libanon lokalisiert.

      Die alttestamentliche Wissenschaft der letzten 100 Jahre ist von der Hypothese eines anonymen Propheten »Deuterojesaja« zutiefst geprägt worden. Aus dem exegetischen Kunstnamen wurde der Eigenname eines Verfassers, der die Summe der Prophetie und den Höhepunkt des AT verkörpern sollte.14 Es war aber gerade die Anonymität, an der die Kritik ansetzte. Mit beißender Ironie hält z.B. Wilhelm Caspari den Duhmschen Deuterojesaja für »eine Zimmerpflanze auf dem Gelehrten-Schreibtische.«15 Zur Diskussion stand und steht nicht die Besonderheit der Kapitel 40ff., sondern ihre vermeintliche biographische Verankerung. Hinter »Deuterojesaja« eine historische Prophetengestalt zu vermuten, ist in der Exegese immer noch sehr verbreitet16, doch nehmen die Stimmen zu, die für eine alternative Sichtweise plädieren.17 Dass die Lieder vom Gottesknecht dieses biographische Vakuum nicht füllen können, wird ebenfalls immer deutlicher wahrgenommen.18 Auch weisen redaktionskritische Studien einer möglichen deuterojesajanischen Grundschicht immer weniger Texte zu.19

      Gegenüber der breiten Akzeptanz des Duhmschen »Deuterojesaja« hat sich dessen Ansicht über »Tritojesaja« nie flächendeckend durchsetzen können. Hier dachte man schon sehr früh an Kreise von Schriftgelehrten. Doch im Sog der alles beherrschenden Deuterojesaja-Hypothese wurden diese als Schüler des exilischen Anonymus missverstanden.20 Dass »Deuterojesaja« in Theologie und Kirchen so populär werden konnte, hing nicht zuletzt vom christlich geprägten Prophetenbild ab. Man wollte so wichtige Texte nicht einfach namenlosen Schreibergruppen zuweisen. Von daher ist die vorsichtige Anfrage von Diethelm Michel zum Rätsel Deuterojesajas in der Theologischen Realenzyklopädie aus dem Jahre 1981 mit einem klaren Ja zu beantworten: »Es ist also zu fragen, ob bei der Postulierung eines Propheten Deuterojesaja nicht die Ansicht Pate gestanden hat, eine so überzeugende theologische Leistung könne nur von einem großen Individuum stammen.«21 Zu den kritischen, viele Jahrzehnte überhörten Stimmen von Caspari, Vincent und dem frühen Michel mit seiner Antrittsrede von 196722 gehört auch die kleine Monographie von Joachim Becker »Isaias – der Prophet und sein Buch« aus dem Jahre 1968. Seine damalige Einschätzung hat nichts an Wert eingebüßt: »Die verbreitete Vorstellung von einer kurz vor 539 wirkenden – aus Verlegenheit