Das Kinderzimmer
Beim Abendessen schwiegen alle, nur Pablo schmatzte laut. Tyran stocherte in seinem Haferschleim herum, denn darauf hatte er keinen Appetit. In Gedanken war er bei dem Apfel und wie gerne er diesen verputzt hätte.
Eigentlich erzählte ihnen die Señora nach dem Essen immer noch eine Geschichte oder sie sangen gemeinsam, aber als Tyran heute danach fragte, schickte sie ihn und Timmy auf ihr Zimmer.
Das kleine, einfach eingerichtete Kinderzimmer bestand aus zwei Holzbetten und einem Holztisch mit Stuhl vor dem Fenster. Wobei das Fenster nur aus einem Loch bestand, das durch ein von außen befestigtes Brett wie ein Bullauge geschlossen werden konnte. Vom Kinderzimmer hatte man einen guten Blick auf den prächtig blühenden Kräutergarten der Señora.
Timmy saß auf dem wackeligen Stuhl, der nur noch drei Beine hatte. Das vierte war vor einer Weile abgebrochen, als er und Tyran beim Raufen dagegengekommen waren. Vor Timmy auf dem Tisch lag seine beschädigte Brille. Er überlegte, wie er sie reparieren konnte.
»Boah, war das heute spannend!«, sagte Tyran, während er sich rücklings auf sein Bett fallen ließ. Er fand es aufregend, was sie an diesem Tag gemeinsam erlebt hatten. »Wir wären beinahe draufgegangen. Dabei haben wir der Angst mitten ins Auge geblickt!«
»Wir h-hatten noch mal G-Glück, dass Mama und Pablo rechtzeitig d-da waren«, sagte Timmy.
»Das hätten wir auch ohne die geschafft!«
Tyrans gute Laune änderte sich, als ihre Mutter das Kinderzimmer betrat.
»Ich hoffe, das war euch heute eine Lehre!«, sagte sie.
»Ja, M-Mama«, erwiderte Timmy.
Für die Worte seines Bruders hatte Tyran nur ein unmissverständliches Augenverdrehen übrig.
Die Miene ihrer Mutter war besorgt. »Ich möchte euch niemals verlieren, denn die Welt kann sehr gefährlich sein.«
»Mama, wir können gut auf uns aufpassen!«, sagte Tyran brummig.
»Tyran, jetzt ist Schluss damit! Die Idee war doch bestimmt wieder auf deinem Mist gewachsen, oder?«
»Mag sein«, antwortete er und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Du hast dich und deinen Bruder in Gefahr gebracht. Entschuldige dich bei ihm!«
Widerwillig drehte sich Tyran zu Timmy um. »’tschuldigung«, sagte er schmollend.
»N-Nicht schlimm«, erwiderte Timmy zögernd.
»Das kommt nicht noch mal vor, okay!?«
»Ja, Mama«, kam es leise, aber einstimmig von beiden Igeln.
»So ist gut. Und jetzt Zähne putzen, umziehen und ab ins Bett!«
Tyran erhob seine Stimme. »Müssen wir immer so früh schlafen gehen?«
»¡Sí!«
Die zündende Idee
Mitternacht. Es gewitterte. Der Wind heulte um das undichte Zirkuszelt. Regen tropfte auf die hölzernen Zuschauerränge. Smokey ging in die kühle Manege, um Gordo und Elroy seine Idee vorzustellen. Die Gehilfen standen in einem kleinen warmen Lichtkegel der Deckenbeleuchtung und fröstelten.
»Hört zu, ihr Versager!«
Gordo holte hastig einen Notizblock und einen Bleistift aus der Brusttasche seiner Jeansjacke.
Smokey beobachtete, wie Gordo die Bleistiftspitze auf das Blatt bohrte und ihn erwartungsvoll ansah. Er zog ihn am Kragen der Jeansjacke zu sich heran und fletschte die Zähne.
Ohne sich zu wehren, rief Gordo: »Boss, nicht so ruppig!«
Daraufhin schmiss Smokey seinen Gehilfen zu Boden. »Wir veranstalten ein Casting für Tellys!«, verkündete er majestätisch und mit hochgestrecktem Hals.
»Genial!«, sagte Elroy fasziniert.
»Casting mit ›K‹ oder ›C‹?«, fragte Gordo.
Ehe sichs der Schimpanse versah, haute ihm Smokey den Notizblock aus der Pfote und fuhr mit breitem Grinsen fort: »Den Teilnehmern des Castings machen wir weis, dass sie ein Praktikum bei uns gewinnen können. Dabei ahnen sie nicht, was ihnen in Wahrheit blüht.«
»Was ist bloß aus dir geworden, Smokey?«, ertönte aus einiger Entfernung eine weitere Stimme.
Die drei Affen schauten verwundert zur Tribüne. Dort saß ein Storch, der gerade mal halb so alt war wie Smokey. Sein Gesichtsausdruck war ernst.
»Jack, die gute Seele unseres Zirkus!«, rief Smokey freundlich. »Verstehe gar nicht, wie man jeden Tag diesen muffigen Schal tragen kann.«
»Du weißt, dass der von meiner Familie ist!«
»Ich korrigiere: von deiner Familie war!«, sagte Smokey voller Hohn, ohne Mitleid zu verspüren.
Gordo und Elroy lachten gehässig.
»Aber wenn du uns schon heimlich belauschst, dann sollst du auch erfahren, dass ich geistreiches Genie einen Weg gefunden habe, die Kassen hier wieder ordentlich klingeln zu lassen.« Smokey warf ein Bündel Flyer in Richtung des Storchs. »Die kannst du in den Wäldern bei den Tellys verteilen!«
Jack erhob sich von der Tribüne und stelzte zur Manege. Er hob die Flyer auf und las neugierig ihren Inhalt. »Ich bin ein Zauberer und nicht dein Dienstbote!«
»Das sieht Mister Dark aber ganz anders, sonst würdest du hier nicht putzen!«
»Uuuh!«, grunzten Gordo und Elroy.
»Wofür brauchst du überhaupt Tellys?«, fragte Jack.
»Für eine Attraktion, die die Zuschauer niemals in ihrem Leben vergessen werden.«
»Und welche?«
»Das geht dich einen feuchten Dreck an!«
»Warum nehmen wir nicht die Noblas aus den Käfigen?«, warf Elroy ein. »Davon haben wir doch genug!«
»Noblas? Weißt du nicht, wie lange man braucht, um sie zu dressieren? Keine Zeit! Ich brauche ängstliche Tellys, denn die machen genau das, was ich will!«
»Pfui!«, sagte Jack angewidert und wandte sich ab.
»Ey, wo willst du hin?«, rief Smokey ihm hinterher.
»Weg von hier!«, erwiderte Jack.
»Bist du mir nicht etwas schuldig?«, blaffte der Schimpanse. »Du weißt, wovon ich rede!«
Jack blieb abrupt stehen und drehte sich wortlos zu den Schimpansen um.
»Kluge Entscheidung«, sagte Smokey mit einem hämischen Grinsen.
Der Flyer
Tock!
Ein dumpfes Geräusch weckte Timmy. Nervös rannte er zu Tyrans Bett.
»H-Hast du das auch ge-gehört?«
»Regen. Ja, und?«, murmelte Tyran.
»N-N-Nein. Etwas i-ist an die A-Außenwand gegeflogen!«
»Ich will schlafen!«
Tyran drehte sich von Timmy weg und presste das Kissen gegen seine Ohren.
»Sch-Schau bitte nach. V-Vielleicht braucht j-jemand Hilfe.«
Gähnend drehte sich Tyran wieder zu seinem Bruder um. Jetzt war seine Neugierde geweckt.
»Pa-Pass auf dich auf«, flüsterte Timmy, während er an der Tür des Kinderzimmers stand.
Tyran