Prolog
Vor langer, langer Zeit beherrschten die Tiere die Sprache der Menschen und lebten friedlich mit ihnen zusammen. Sie bauten gemeinsam Hütten, halfen einander bei der Ernte, bereiteten die Nahrung zu und führten anregende Gespräche über die alltäglichsten Dinge.
Einem jungen Mann jedoch gefiel diese Gemeinschaft nicht. Er hieß Gideon. Seiner Meinung nach waren Tiere dem Menschen nicht gleichgestellt. Er wollte sie für immer aus den Dörfern vertreiben. Für dieses Vorhaben brauchte er Verbündete. Er verbreitete unter den Menschen das Gerücht, dass Tiere planten, sie zu überfallen und sie dann in Knechtschaft zu halten. In geheimen Versammlungen überzeugte er immer mehr Menschen von der Gefährlichkeit der Tiere.
In einer Nacht wurde sein Vorhaben in die Tat umgesetzt. Seine Anhänger zündeten die Hütten der Tiere an und vertrieben sie mit Heugabeln aus den Dörfern. Dennoch gab es Menschen, die sich schützend vor die Tiere stellten. Gideon befahl, dass diese Verräter für ihr Verhalten schlimm bestraft werden sollten. Innerhalb weniger Stunden waren alle Tiere in den Wäldern verschwunden. Dort errichteten sie Verstecke, damit die Menschen sie niemals finden würden. Die Tiere, die ihre Babys wegen Gideons Hinterhalt zurücklassen mussten, gingen kurze Zeit später in die Dörfer zurück, um sie zu holen, kamen aber niemals wieder.
Gideon hatte mit seinem Vorhaben gesiegt. Ihm kam aber noch eine weitere Idee in den Sinn, die die Geschichte zwischen Menschen und Tieren für immer verändern sollte. Er befahl seinen Anhängern, Tieren auf keinen Fall das Sprechen beizubringen und sie als Nutztiere zu halten. Die Zeit der Noblas begann.
Zukünftig lebten Generationen von sprechenden Tieren in den Wäldern versteckt. Sie bezeichneten sich selbst als Tellys und hielten sich an den Ehrenkodex ihrer Vorfahren:
Sprecht niemals mit einem Menschen!
Das Spiel
An diesem lauen Sommerabend hallte der Ruf einer Eule durch den Wald. Hinter einem unauffälligen Gebüsch befand sich ein leichtes, schlammiges Gefälle, das zu einem massiven Baum führte. In den Baum war ein geräumiges Häuschen eingearbeitet. Darin lebte die Igeldame Señora Solamente mit ihrem zotteligen Briard Pablo. Die Señora war ein sanftmütiger Telly. Weil sie des Öfteren nötige Reparaturarbeiten im und am Haus selber bewerkstelligen musste, trug sie die meiste Zeit eine bequeme Stofflatzhose.
Gemeinsam mit Pablo, einem Nobla, ging sie täglich auf Nahrungssuche. Ansonsten führten die beiden ein eher beschauliches Leben, weit entfernt von den Menschen.
Dieses Leben änderte sich in einer verschneiten Nacht schlagartig, als ein lautes Rumsen die beiden weckte.
Vor dem Haus fand die Señora ein Weidenkörbchen. Vorsichtig zog Pablo mit seinen Zähnen eine samtweiche Decke vom Korb. Darin lagen zwei Igelbabys, die tief und fest schliefen. Die Señora bemerkte die Wärme, die von den Babys ausging, und schloss sie direkt ins Herz. Zu ihrer Verwunderung hatte jemand den Babys Namensschilder um ihr Handgelenk gebunden, auf denen »Tyran« und »Timmy« standen.
Tyran hatte Pausbacken, tief liegende Augen und kleine, spitze Ohren. Timmys Ohren waren auch spitz, jedoch war sein Gesicht schmal und er hatte Knopfaugen. Generell wirkte Timmy sehr zerbrechlich.
In dem Korb fand die Señora noch ein weiteres Schildchen mit dem Namen »Bonita«. Traurig darüber, dass ein Baby fehlte, machte sie sich noch in der Nacht mit Pablo auf die Suche, das Mädchen zu finden, jedoch ohne Erfolg. Die Señora hatte keine Ahnung, wer ihr die Igeljungs gebracht hatte, und so beschloss sie, die beiden liebevoll aufzuziehen.
Zehn Jahre später schaute die Señora ungeduldig aus dem kleinen Küchenfenster. Sie hatte Abendessen zubereitet und ihre Sprösslinge waren immer noch nicht vom Spielen nach Hause gekommen. Es wurde bereits dunkel.
Tyran spürte Timmy dicht hinter sich.
»Gleich h-habe ich dich!«, keuchte Timmy und drückte seine Brille fest auf die Nase.
»Vergiss es!«, erwiderte Tyran und rannte noch schneller.
Plötzlich sah Tyran den schönsten rot glänzenden Apfel, den er je gesehen hatte, an einem Ast hängen und blieb abrupt stehen.
Da rannte sein Bruder schon in ihn hinein und fiel nach hinten um.
»Boah, Timmy, guck mal!«, sagte Tyran und half ihm auf.
Timmy blickte besorgt.
»Was hast du?«, wollte Tyran wissen.
»La-Lass uns l-lieber n-nach Hause ge-gehen! I-Ist schon sp-spät.«
Tyran wusste nicht, warum Timmy dieses Mal heftiger als sonst stotterte. Dann aber sah er, warum. Hinter dem Apfelbaum tat sich ein grasbewucherter Abgrund auf. »Mach dir nicht ins Hemd. Wir teilen den Apfel auch brüderlich.«
»N-Nein, d-das ist z-zu g-gefährlich!«
»Mama muss doch nichts davon erfahren!«
»I-Ich weiß n-nicht.«
»Sei kein Feigling. Ich habe auch schon eine Idee, wie wir an den Apfel kommen.«
Wenige Minuten später stand Tyran ein paar Meter von Timmy entfernt, der vor dem Apfelbaum hockte. »Nicht vergessen, Stacheln anlegen!«, rief er.
»J-Ja!«
Tyran blickte ein letztes Mal zu dem Apfel. »Bereit?«
»B-Bereit!«
Er rannte, so schnell er konnte, auf Timmy zu und sprang auf seinen Rücken. »Jetzt!«, rief Tyran.
Timmy drückte seine Knie durch und Tyran stieß sich von ihm ab. Dadurch wurde Tyrans Schwung verstärkt. Er machte eine Bauchlandung am Baumstamm und kletterte leichtfüßig bis zum Ast hoch. Auf diesem angekommen, winkte er Timmy zu. Sein Bruder stellte sich unter den Ast, um den Apfel aufzufangen.
»Schau mal, bin ich nicht ein super Akrobat?« Tyran schlug mehrere Räder über den Ast und blieb plötzlich mit seiner linken Hinterpfote in einer Furche hängen. »Aaah!«, schrie er und klammerte sich mit seinen vier Pfoten am Ast fest.
»A-Alles in O-Ordnung?«
»Nichts passiert!«
»Puh«, sagte Timmy erleichtert.
Dann knickte der Ast an der Rinde ein.
»Oh-oh.«
Tyran stürzte mit dem Ast und dem Apfel in Richtung seines Bruders, der seine Arme ausgebreitet hatte. Timmy fing Tyran auf und beide fielen zu Boden. Der Apfel rollte zu ihrem Pech in den Abgrund.
»Na klasse!«, rief Tyran beleidigt.
»Wo ist m-meine Brille?«, fragte Timmy panisch und sprang wie von einer