Die Besichtigung der ersten Attraktionen wird durch einen kleinen Makel erschwert: Unser Reiseleiter Ry ist eine Seele von Mensch, lieb und bemüht – aber er redet auch wie ein Wasserfall und versucht uns die Unmengen an Wissen zur faszinierenden Khmer-Geschichte, über die er zweifellos verfügt, geballt reinzudrücken. Leider kann sich der Mitteleuropäer als solcher komplizierte asiatische Herrschernamen und den reichhaltigen Kosmos hinduistischer Gottheiten sowie die Terminologie buddhistischer Erleuchtungsstadien nur schwer auf Anhieb merken. Bedauerlicherweise bedient sich Ry, der angeblich zu DDR-Zeiten in Rostock Medizin studiert hat, einer Sprache, die man beim konzentrierten Hinhören nur mit viel Wohlwollen als Deutsch identifizieren kann. Und er pflegt seine Ausführungen pädagogisch wertvoll aufzubereiten, indem er stets ein rhetorisches »Und warum?« einfügt, um noch detaillierter das eben Gesagte zu wiederholen.
So erfahren wir beispielsweise angesichts der erschlagend beeindruckenden Ruine des Bayon Tempels: »Dann sinn Hinduis unn Shivais geweseh weg unn König Jayavarman die Siebeh, die iss König von elfehundeheinunnachezih bis zwolefehundehneunezeh, wolleh deh Mach von König neu stutzeh auf die Mahayana-Buddhis, sag man doch, stutzeh, eh? Unn warum? Weil die Buddhis is von Jayavarman die Religion, die haben.« Und schon begehen wir einen Frevel, den Pauschalisten scheuen wie der Teufel das Weihwasser: Wir setzen uns einfach ganz individuell ab, erkunden die umwerfende, letztlich nicht beschreibbare Anlage mit den 37 milde lächelnden, meterhohen Buddhaköpfen auf eigene Faust. Einzig das Berliner Ehepaar, sie kugelrund und ständig die Videokamera im Anschlag, er geschmackssicher in schreienden Hawaiihemden, traut sich, ebenfalls aus der Herde auszubrechen. Hier, wie in allen anderen Tempelruinen, wurden einige der heiligen Stätten reaktiviert. In verfallenden Türmen sind Buddhastatuen mit orangenen Schärpen postiert, meist halten kahlgeschorene, greise Nonnen Wache und bitten um Almosen.
Allein der Bayon Tempel und die Straße der Riesen mit den gigantischen Dämonenstatuen auf der rechten und den monumentalen Buddhastatuen auf der linken Seite haben uns völlig betäubt. Man muss sich ständig ins Bewusstsein rufen, dass das alles keine Kulissen für einen »Indiana Jones«-Film sind, auch wenn das immer wieder behauptet wird. Der Ta Prohm Tempel wird sogar fälschlicherweise »Indiana Jones Tempel« genannt. Nein, Indiana Jones war nie hier. Dafür Angenlina Jolie in »Lara Croft: Tomb Raider«. Alles ist echt, wir erleben die spektakulären Ruinen einer einstigen Millionenstadt, die zur selben Zeit aufblühte wie das Reich Karls des Großen, ihren Höhepunkt unter den Gottkönigen im 12. Jahrhundert erlebte und sich durch ihre eigene, unstillbare Prunksucht dann selbst das Grab schaufelte. Nach zahlreichen Kriegen, Eroberungen und Plünderungen durch die Siamesen wurde Angkor verlassen und ab dem 15. Jahrhundert vom Urwald zurückerobert. Seit knapp eineinhalb Jahrhunderten wird die Stätte der Superlative wieder peu à peu dem Dschungel entrissen. Angkor darf man sich nicht als wilde Ansammlung von Ruinen vorstellen. Schon von der Straße der Riesen zum Bayon Tempel fährt man mehrere Kilometer. Teilweise ist man je nach Fortbewegungsmittel (und unsere Individual-Freunde wählen hierzu Mopeds oder Fahrräder, zwei bis drei völlig Durchgeknallte sind mit hochroten Köpfen sogar per pedes unterwegs und sehen so aus, als würden sie nicht mehr lebend nach Siem Reap zurückkehren) mehrere Stunden von Tempel zu Tempel unterwegs, durchquert Dörfer, Felder und wilden Urwald.
Bevor wir uns Angkor Thom und Angkor Wat widmen dürfen, heißt es erst: zurück ins Hotel, Zimmer beziehen. In der Sekunde, in der wir unsere Zimmertüre aufschließen, ertönt innen ein kurzes Quieken und die Badezimmertür wird zugeschlagen. Im Bruchteil einer Sekunde erhaschen wir noch einen Blick auf die Ursache: Ein Zimmermädchen hockt mit runtergelassenem Höschen auf unserem Klo und kackt sich aus. Es dauert, bis sie endlich fertig ist. Sie kommt heraus, lächelt verlegen und sagt »Sorry«, während sie sich mit der rechten Hand vielsagend den Bauch hält.
Die meisten aus unserer Gruppe nutzen die freie Stunde zum Schlafen, ich erkunde lieber den Hotelpool. Außer mir kommt noch die junge Münchnerin an den Pool. Sie heißt Clara und fühlt sich vom stundenlang durch die Tempel tigern noch nicht richtig ausgelastet. Ein paar Kilometer schwimmen soll Abhilfe verschaffen. Der Pool ist ansonsten fest in japanischer Hand – wie übrigens fast alles in Kambodscha. Vielleicht finden die reichen Zeitgenossen aus dem Land des Lächelns ja auch die Attraktion toll, die hinter dem Pool zur Gästebelustigung bereitgehalten wird: Zwei völlig verstörte Schwarzbären kauern in einem winzigen Käfig, der so gut wie keinen Sonnenschutz bietet.
Nur bleibt kaum Zeit, Bärenschicksale zu bedauern, denn wir müssen an diesem Nachmittag noch einiges abarbeiten. Angkor Thom mit dem Königspalast, der gigantischen Elefantenterrasse und der Terrasse des Lepra-Königs sind vergleichsweise schnell abgehakt, wobei die drängende Frage, ob denn der König nun wirklich Lepra hatte oder nicht, von unserem Reiseleiter Ry nicht erschöpfend beantwortet werden kann. Das heißt, uns erschöpft die Antwort sehr wohl, denn Ry holt erst einmal zu einer kompletten Genealogie der Khmer-Könige aus, um dann die Frage nach der Lepra wortreich in einer uns größtenteils unbekannten Sprache zu umschiffen: »Die Leute denken die Lepra mit die König. Unn warum? Weil die König habe die Fingah unn die Leute nich habe gewusst – man sag doch gewusst? –, dass die Lepra nich die Ursach, wenn die König habe das. Aber die König so habe immer unn denke die Leute mit die Lepra. Aber habe die Fingah! Sie verstehe? Also, ich wiederhole noch mah …«
Immer noch rätselnd, was denn nun an der Leprageschichte dran war, turnen wir bald darauf auf den Steiltreppen des Phimeanakas, einer Tempelpyramide aus dem 10./11. Jahrhundert, herum. Wie sich im Nachhinein zeigen sollte, noch die harmloseste. Buddhistische Tempelpyramiden in Angkor neigen dazu, nur über halsbrecherische, beinahe senkrechte Steintreppen mit ausgelatschten, extrem schmalen Tritten erklimmbar zu sein. Nichtsdestotrotz klaxelt Clara, die den dringenden Hinweis des Reiseveranstalters auf festes Schuhwerk einfach ignoriert hat, mit hochhackigen, offenen Sandaletten hinauf und erstaunlicherweise auch lebend wieder hinunter. Gute Übung für die Kletterherausforderung, die nun auf uns wartet: Angkor Wat. Die pompöse, trotz der Jahrhunderte Dornröschenschlaf im dichten Dschungel sehr gut erhaltene Tempelanlage ist der erste und einzige Ort hier, den man tatsächlich als touristisch überlaufen bezeichnen könnte: Man sieht nämlich ab und an mal ein paar andere Menschen. Natürlich haben wir zwei schwarze Schafe uns wieder von Rys Erklärungsmarathon zum größten sakralen Bauwerk der Welt befreit, überqueren die Brücke über dem Wassergraben, der Angkor Wat umgibt, und lustwandeln auf der Prachtallee gen Zentraltempel. Ab und an rollt die dicke Berlinerin, die ebenfalls endgültig zu den Dissidenten gehört, in Sichtweite herum und filmt, was die Videokamerabatterien hergeben. Bei jeder Begegnung zwinkern wir uns verschwörerisch zu. »Det isn Ding hier, wa?«, ruft sie uns fröhlich zu. »Aba det is noch jar nüscht jejen Burma! Det müssta ma machen!« Machma. Näxtes Jahr, wa.
»Hey, howya doin?«, plärrt es da von der Seite, und schon treffen wir unsere Bekannten aus dem Einreise-Schlangen-Abenteuer, Lederstrumpf und Gattin.
»What a small world, hm?«
»It is!«
»Isn’t that ter-ri-fic?!«
»Sen-sa-tio-nal!«
»A-ma-zing!«
»It’s just like, you know, so impressing!«
»Yeah, see ya!«
»See ya!«
(Amnerkung von 2020: Damals war noch nicht alles »awesome«.)
Im Herzen Angkor Wats befindet sich die ultimative Traniningsanlage für Freeclimbing-Freaks. Die »Treppe« der Tempelpyramide ist nichts weiter als eine endlos hohe Wand mit einem winzigen Stüfchen alle fünf Meter. Carsten, fitnessgestählt, macht die Vorgabe und turnt leichtfüßig, einer Bergziege gleich, die Senkrechte hoch. Ich, schokoladengeschwächt, erklimme zitternd auf allen vieren und mit