»Du bist ja ein Komiker.« Rafik lachte. »Verbrannt! Lustig. Pass auf, da wo ich herkomme, sind alle so schwarz wie ich. Das ist dort normal. Für mich war es auch ein Schock, als ich das erste Mal einen Weißen gesehen habe. Da dachte ich, das wäre ein Geist. Wie kann man nur so weiß sein? Das ist doch krank. Eunuchen sind kein Volk oder Stamm. Wir werden gemacht. Man schneidet uns alles ab, womit ein Mann Spaß haben kann. Eier und Schwanz. Alles weg. Die machen das, wenn wir Kinder sind. Viele überleben das nicht, weil es einfach brutal ist. Mit viel Blut und so. Alles kommt weg, damit wir keinen Trieb haben. Wir Eunuchen werden dann an die hohen Herren verkauft, die uns zum Schutz ihrer Frauen einsetzen. Wir sind ja keine Männer und können denen nicht gefährlich werden.«
»Das ist ja hart«, sagte Hans betroffen. »Du hast also … gar nichts?«
»Ja, fühl mal.« Er nahm Hans’ Hand und führte sie in seinen Schritt. Nichts. »Scheiße ist das. Wobei … ach, ich weiß ja nicht, wie es wäre, einen zu haben und damit rumzuvögeln. Scheint Spaß zu machen, oder?«
»Hmmm, ich weiß auch nicht.«
»Hast du noch nie?«
»Nein.«
»Oha, und dann machst du dich gleich an eine der Konkubinen ran?«
»Gar nichts mache ich«, empörte sich Hans.
»Ja, klar. Darum sitzt du auch nachts mit mir auf dem Dach über dem Harem.«
»Und warum sitzt du hier nachts mit mir auf dem Dach über dem Harem, wenn du gar nicht kannst, Rafik?«
»Gute Frage. Das willst du nicht wissen. Kleines Eifersuchtsdrama. Es ist auf jeden Fall besser, wenn ich abwarte, bis die sich da unten beruhigt haben.« Er schielte zu Hans hinüber.
»Eifersuchtsdrama? Wo ihr doch angeblich gar nicht könnt?«
»Es gibt auch andere Wege, sich zu amüsieren. Und daran sind meist junge Janitscharen beteiligt … oder alte Lustgreise.«
Hans schwieg und starrte den Schwarzen an.
»Du kapierst es nicht, oder?« Der Eunuch Rafik kicherte. »Lass es mich mal so sagen, hat dir schon mal jemand gesagt, was für sinnliche Lippen du hast, oder hat sich für deinen Hinterausgang interessiert?«
»Oh.« Hans verstand das mit den Lippen zwar nicht, aber das mit dem Hinterausgang. Seine Janitscharen-Orta hatte gut ein Jahr lang in mönchischer Abgeschiedenheit verbracht. Rund einhundert junge Burschen zwischen vierzehn und zwanzig Jahren, die keine Chance hatten, Mädchen kennenzulernen oder zu den Huren zu gehen. Nach knapp drei Monaten wurde das erste Mal einer der Jüngsten vergewaltigt. Die Jüngeren oder Schwächeren suchten sich daraufhin Schutz und zahlten dafür mit der Exklusivität ihrer Körperöffnungen. Für einige war das nicht neu, denn sie hatten bereits ihren Rittern gelegentlich in langen und einsamen Nächten in absolut jeglicher Hinsicht dienen müssen. Was ablief, durfte natürlich nie auch nur erwähnt werden, denn auf Sodomie standen schwerste Strafen, aber es war gängige Praxis. Was in den Waschräumen und Latrinen passierte, wenn keine Vorgesetzten in der Nähe waren, blieb die Sache zwischen zwei Burschen. Hans hatte mehrfach entsprechende Angebote bekommen, da er kräftig war und jeder wusste, wie heldenhaft er sich bei Nikopolis im wahrsten Sinne des Wortes geschlagen hatte. Aber Hans lehnte ab. Er interessierte sich wirklich absolut nicht für Jungs und blieb bei seiner rechten Hand. Manche hielten auch ihn und Yorick für ein Paar, weil sie fast immer zusammen herumhingen. Doch auch für Yorick war Hans nicht mehr und nicht weniger als der beste aller Freunde. Yorick selbst hatte zwei Schützlinge, doch er verhielt sich den Möglichkeiten nach so dezent wie möglich. Dass Hans seinen Freund mehr als einmal beim Sex überraschte – wobei die Tatsache an sich Hans weniger überraschte, als vielmehr Yoricks Vorliebe, sich mit seinen beiden Schützlingen gleichzeitig zu amüsieren –, war der räumlichen Enge in Bursa geschuldet gewesen. Seit sie nun im Feld standen, waren die Verhältnisse von Bursa, abgesehen von zwei bis drei Paaren, die einfach nicht voneinander lassen konnten, weitestgehend beendet.
Sollte Hans nun dem Eunuchen über seine Erfahrungen berichten? Er entschied sich dagegen. »Aber das ist doch Sünde.«
»Sünde, Sünde, blablabla.« Der Schwarze warf die Hände in die Luft. »Ihr Christen immer mit eurer Sünde. Und trotzdem sündigt ihr ununterbrochen. Konkubinen nachsteigen ist auch Sünde.«
»Mir egal«, antwortete Hans entspannt. Er konnte sich absolut sicher sein, dass er für alle Zeiten von Sünden reingewaschen war. Denn als er gerade zwölf Jahr alt war, hatte Papst Bonifaz IX. das erste Gnadenjahr außerhalb Roms ausgerechnet München zugesprochen. Hans hatte alles eingehalten, was nötig war. Die Grundvoraussetzung – nach München pilgern und dort sieben Tage verweilen – fiel in seinem Fall flach. Er besuchte je dreimal die Frauenkirche, die Peterskirche, die Jakobskirche am Anger und die Spitalskapelle, verehrte brav einmal die ausgestellten Reliquien, beichtete und dann kam das Entscheidende: Er spendete ein Almosen, genauer gesagt hatte sein Vater für alle Familienmitglieder das Geld gegeben. Mit dem Gnadenjahr hatten sich Hans und die Münchner von der Strafe des Fegefeuers freigekauft. »Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt«, hatten Hans und seine Kumpels ein beliebtes Spottlied gesungen. Zugegeben, der Ablass galt für alle Sünden außer für vorsätzliche Tötungen. Und vorsätzliche Tötungen hatte Hans inzwischen einige begangen. Doch das beunruhigte ihn nicht, denn das Töten im Krieg fand im Namen und zu Ehren Gottes statt. Er hatte nur Heiden getötet, und selbst jetzt im osmanischen Heer waren seine Opfer weiterhin allesamt Heiden. Seine Seele war blütenrein. Das viele Geld, das München damals im Jahr 1392 eingenommen hatte, sollte ursprünglich je zur Hälfte an die genannten Kirchen und den Papst gehen. Doch Herzog Stephan zweigte sich flugs ein Viertel ab, und auch die Stadt München behielt einfach jene Summe ein, die dem Papst zugestanden hätte. Der Papst verhängte daraufhin Bann und Interdikt gegen diese »ruchlose« Stadt, was die Münchner in ihrer Gewissheit, nun aller Sünden frei zu sein, wenig scherte.
»So? Das ist dir egal?«, sagte der Eunuch spitz. »Na, mir ist es auch egal. Wir Eunuchen müssen sehen, wo wir bleiben. Und hübsche Janitscharen gibt es immer, die gut an Mauern hochklettern können. Da gibts eben manchmal Eifersüchteleien.«
»Das heißt, der Tumult vorhin galt gar nicht mir?«
»Nein, kleiner Janitschar, die Welt dreht sich nicht nur um dich. Du kannst weiterhin deine Gülsüm besuchen.«
»Gülsüm?«
»Oh, eine andere? Gülsüm ist durchaus beliebt und sehr offenherzig. Ich mag sie. Sie ist wie eine Schwester für mich. Aber die anderen? Na, musst mir nicht verraten, wer deine Herzensdame ist. Die haben sich aber offensichtlich wieder beruhigt. Ich glaube, ich kann langsam wieder runtergehen. Und du auch.«
»Ich kann doch nicht wieder durch die Haremszimmer gehen.«
»Warum denn nicht? Na gut, dann komm mit mir.«
Er warf ein Seil, das am Kamin verknotet war, hinunter und kletterte daran hinab. Hans folgte ihm. Er bemerkte, dass das Seil lang genug war, um damit die ganze Mauer bis zur Straße hinunterzuklettern. Oder eben hinauf. Sie stiegen durch ein kleines Fenster in eine dunkle Kammer, in der Körbe standen.
»Du bist gut vorbereitet«, sagte Hans leise.
»Ich kenne meine lieben Miteunuchen«, entgegnete Rafik. »Wir sind im ersten Stock, die Konkubinenräume sind zwei Türen weiter links. Wenn wir jetzt rausgehen, findest du den Weg hinaus?«
»Sicher«, antwortete Hans. »Danke dir, Rafik.«
»Vielleicht sehen wir uns mal wieder oben auf dem Dach.«
»Ich hoffe nicht«, verabschiedete sich Hans. Er schlich durch die Flure. Kein Lichtschein weit und breit, also auch keine Wache auf Rundgang. Als er um eine Ecke bog, stieß er fast mit Yorick zusammen. Hans hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund.
»Da bist du ja endlich«, zischte Yorick. »Was war denn das für ein Radau vorhin? Ich dachte schon, sie haben dich erwischt. Aber hier ist niemand aufgetaucht.«
»Na, hör mal, als du wie vereinbart miaut hast, bin ich aufs Dach