Reine Nervensache. Martin Arz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Arz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940839251
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dabei ein ekliges Quietschen von sich. Benni verschwand. Dann tauchte ein weiterer Kopf auf und Frank schrie diesmal noch lauter auf als Nathalie. Das unrasierte Kinn von Jo rieb sich im Blut auf der Scheibe. Er grinste diabolisch und machte Fratzen, presste seine Nase und seine Lippen abwechselnd gegen das Glas. Er weidete sich an dem Entsetzen der beiden Jugendlichen, die sich aneinander klammerten. Dass Frank sich einnässte, nahm Nathalie nur ganz am Rande wahr. Jo zog sich schlagartig zurück. Wie versteinert verharrten die Autoinsassen in ihrer Position. Erst als sich minutenlang nichts tat, lösten sie sich langsam voneinander. Dabei rutschte die Reisetasche, die auf Franks Knien gelegen hatte, zur Seite. Etwas in der Tasche geriet in Bewegung und suchte seinen Weg hinaus. Ein Kopf kullerte über Nathalies Schoß, ihre Beine hinunter und kam im Fußraum zum Liegen.

      Während Frank sich erneut in die Hose machte und wie Espenlaub zitterte, schrie Nathalie mit überschnappender Stimme fortwährend »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«. Etwas anderes kam ihr nicht in den Sinn. Auch als draußen grelles Scheinwerferlicht aufflammte und mehrere Menschen schemenhaft aus der Dunkelheit des Waldes auftauchten, schrie Nathalie noch ihr Scheiße-Stakkato. Auch als die Menschen nah genug am Wagen waren, dass Nathalie erkennen konnte, dass es genau fünf waren, eine Frau und vier Männer, und alle lachten und fröhlich winkten, schrie sie weiter. Auch als sie unter den Menschen Benni wahrnahm, der ihr quicklebendig und feixend zuwinkte und dann überschwänglich Jo umarmte, schrie sie weiter. Erst als das Kamerateam die Tür auf ihrer Seite mit Bennis Wagenschlüssel öffnete und ein auf jugendlich getrimmter Mann »Herzlich willkommen auf MTV, willkommen bei Voll geschockt!, der härtesten Show, die je eine Kamera versteckt hat!« rief, hörte Nathalie auf zu schreien. Reflexartig trat sie dem Mann in der Wagentür zwischen die Beine und schlug ihm gleichzeitig ins Gesicht. Grenzenlose Wut hatte ihre Panik hinweggefegt. Der Moderator taumelte stöhnend zurück. Irgendwer gackerte lauthals los. Frank saß bleich wie ein Bettlaken neben ihr und atmete schwer.

      »Ihr Arschlöcher!«, brüllte Nathalie ihren Zorn heraus. Die meisten vom Fernsehteam hörten auf zu lachen. Nur einer kicherte noch blöde.

      »Mensch, Nathalie …«, sagte Benni und trat an den Wagen. »Hey, Baby, war doch nur ein Scherz! Guck, ich lebe noch und der Kopf in der Tasche ist eine Attrappe!«

      »Du Arschloch«, schrie das Mädchen, bückte sich nach dem Kopf im Fußbereich, packte ihn und schleuderte ihn mit voller Wucht auf ihren Freund. »Das nennst du witzig?!«

      Der Kopf prallte an seiner Brust ab. Benni rang kurz nach Luft und taumelte etwas. Dann starrte er auf den Kopf, der am Straßenrand in eine kleine Pfütze gekugelt war. »Das ist ein falscher Schädel, haben die klasse lebensecht hingekriegt …«, begann Benni, beugte sich zu dem Kopf und packte ihn am Schopf. »Das ist doch nur ein Scherz. Nur ein Scherz«, wiederholte er während er den Schädel hoch hielt. »Nur ein Scherz«, flüsterte er ein letztes Mal tonlos und starrte den Schädel an. »Onkel Herbert …« Er ließ den Kopf fallen, drehte sich weg und übergab sich.

      Der Kameramann hielt gnadenlos seine Kamera auf den jungen Mann, dann schwenkte er hinunter auf den Kopf. Einige Sekunden verstrichen, bis der Kameramann mit starren Augen sein Arbeitsgerät langsam von der Schulter gleiten ließ. Plötzlich erschlaffte sein Arm völlig und die Kamera schlug zu Boden.

      »Das ist kein Scherz«, sagte der Kameramann schwach. Jo, der von Nathalie malträtierte Moderator und die beiden anderen Teammitglieder kamen langsam näher. »Das ist echt Herbert, der Kopf von Herbert.«

      02 Nathalie schrie noch, wenn auch tonlos, denn die Stimmbänder hatten längst den Dienst versagt, als Kriminalrat Max Pfeffer sie behutsam in seine Arme nahm.

      »Schschsch«, sagte der Polizeibeamte und wiegte das Mädchen sanft hin und her. »Es ist alles gut. Es ist vorbei.« Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. Er ließ seinen Blick schweifen. Die Feuerwehr aus Vierkirchen hatte Aggregate und Scheinwerfer aufgebaut, die das Waldstück mit dem kleinen Häuschen hell erleuchteten. Die Jungs von der Spurensicherung hatten ihre Arbeit auf der Straße schon beendet und widmeten sich längst dem Haus. Der Notarzt spritzte Frank ein kreislaufstabilisierendes Mittel. Er hatte Pfeffer schon darüber informiert, dass der Junge nicht vernehmungsfähig sei und zur Beobachtung mindestens eine Nacht mit in die Klinik müsse, weil er unter schwerem Schock stand. Die Gerichtsmedizinerin Gerda Pettenkofer wuchtete soeben ihre gewaltige Leibesfülle aus ihrem Suzuki-Jeep, den sie neben dem Streifenwagen geparkt hatte, der als erstes am Tatort eingetroffen war. Die ganze Straße war weiträumig von der Polizei abgesperrt worden, der ohnehin spärliche Verkehr auf dieser Route wurde umgeleitet.

      »Guten Abend, die Herrschaften. Sorry, dass ich so spät komme«, rief die Ärztin laut und zog an ihrer Zigarette. »War auf einer Grillfeier an der Isar.«

      »Tu nicht so«, antwortete Kriminalkommissar Paul Freudensprung, der zu Pfeffers Team gehörte und sich um Frank kümmerte. »Du bist nur zu spät, weil du eine mickrige Friseusenschleuder fährst, die nicht auf überbreite Schwertransporte ausgelegt …«

      »Noch ein Wort zu meinem Gewicht, und du bist tot!« Die Gerichtsmedizinerin ließ sich durch die Frotzeleien nicht aus der Ruhe bringen. Und weil sie wusste, wie sehr Paul Freudensprung es hasste, wenn sein Name als Gaudihupf oder Gaudi verballhornt wurde, platzierte sie nach einer Kunstpause: »Verstanden, Gaudi?« Sie grinste selbstzufrieden vor sich hin, während sie sagte: »So, wo ist der Kopf?«

      »Gerda. Paul. Bitte!«, beendete Pfeffer leise aber bestimmt das Gekabbel.

      »’tschuldigung.« Die Gerichtsmedizinerin kam an Pfeffer und dem Mädchen vorbei. Sie tätschelte Nathalie mitleidig den Arm. Endlich schloss das Mädchen den Mund. »Hast ihn gefunden, hmmm? Tut mir leid, ich wollte nicht … na ja. Also, wo ist nun das Corpus Delicti?« So schnell es ihr möglich war, entfernte sich Doktor Gerda Pettenkofer.

      Pfeffer hielt den Teenager weiter im Arm. Nathalie schluchzte nun leise. Mit einer Hand fuhr sie sich über die Stirn und sah zu Pfeffer hoch. Seine rehbraunen Augen strahlten genau den Beruhigungseffekt aus, den sie brauchte. Pfeffer wusste das. Er kannte die Wirkung seiner Augen, den Kuscheleffekt, den sie ausstrahlten. Nathalie löste sich ein wenig von ihm.

      »Sie sind der Vater von Cosmo, nicht wahr?«, sagte sie leise mit heiserer Stimme. »Cosmo, … Cosmo Pfeffer.«

      »Ja. Cosmas ist mein Sohn.« Pfeffers Sohn trug eigentlich den guten alten bayerischen Namen Cosmas, doch außer dem Kriminalrat selbst nannte ihn alle Welt Cosmo.

      »Cosmo hat auch so tolle Augen wie Sie«, sagte sie und starrte ins Leere. »Ich finde ihn …« Sie brach ab. »Wir sind in einer Klasse.«

      Auch das wusste Pfeffer. Er hatte das Mädchen schon auf der einen oder anderen Schulveranstaltung gesehen, vor allem bei Schulmusikabenden, die Pfeffer immer gerne besuchte, weil da sein Sohn Cosmo mit seiner Hiphop-Band auftrat. Und Cosmo machte seine Sache gut, Pfeffer war wirklich stolz auf die Auftritte seines Sohns. Nathalie gehörte ebenfalls zu den festen Programmpunkten bei den Musikabenden, denn für eine Sechzehnjährige spielte sie hervorragend Klavier. Ein begabtes, hübsches Mädchen aus gutem Hause. Pfeffer strich ihr sanft über die wilde Lockenmähne. Er dachte kurz daran, dass er sich immer eine Tochter gewünscht hatte. Eine wie Nathalie. Wahrscheinlich war es besser, dass er stattdessen zwei Söhne gezeugt hatte. Er wäre womöglich einer dieser hypereifersüchtigen Väter gewesen, die ihre Töchter so lange in goldenen Käfige stecken, die sie dann auf Händen tragen, bis aus den verzogenen Prinzesschens zänkische Anspruchsterroristinnen werden.

      Wie gerne würde er jetzt eine rauchen. Er wühlte in der Außentasche seines leichten Sommersakkos nach der Packung Gauloises Blondes, die er sich erst vorhin an der Tankstelle, an der der »Tramper« zu den Jugendlichen ins Auto gestiegen war, gekauft hatte. Dass er damit den fünften Versuch mit dem Rauchen aufzuhören in Folge brach, war ihm momentan egal. Lieber Raucherhusten mit Auswurf am Morgen als diese ekligen bitteren Nikotinkaugummis kauen.

      »Darf ich auch eine?« Nathalie sah wieder tief in seine kuscheligen Teddybäraugen. Er gab ihr eine Zigarette und Feuer. Sie hustete bei jedem Zug. »Ich rauche eigentlich nicht.« Pfeffer schmunzelte. »Ich … ach, was. Worüber reden wir hier? Cosmo hätte wenigstens nicht so einen Scheiß …«, sie hob