»Äh …«, Benni stockte und sah zu Nathalie hinunter, die ihm einen kurzen flehenden Blick aus ihren braunen Augen zuwarf. Dann musterte er seinen Kumpel Frank und den Mann mit der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze. Der Tramper mochte Anfang zwanzig sein, sein Gesicht lag zwar im Schatten der Kopfbedeckung, doch selbst Nathalie konnte beim näheren Hinsehen keinerlei Spuren von Wahnsinn und Mordlust darin erkennen. Eher erinnerte er sie mit seiner seltsam ausdruckslosen Miene und den müden Augen an einen bedröppelten Hund. Nathalie strich sich eine Strähne ihrer naturblonden wilden Mähne aus dem Gesicht und lehnte sich mit einem Seufzer zurück.
Benni sagte: »Nö, ist kein Problem, oder Nathalie? Vierkirchen liegt ja fast auf der Strecke. Ich zahl nur noch schnell, dann kanns losgehen.«
»Ich möchte vorne sitzen«, sagte der Kapuzenmann, der nach Franks Angaben Jo hieß. Seine Stimme war dunkel und kratzig, aber angenehm. Ihr Klang machte bei Nathalie noch mehr an negativen Eindrücken wett als sein Hundeblick. Doch er sagte »ich möchte«, fordernd, befehlend, nicht »darf ich« oder »kann ich«, schon gar kein »bitte«. Nathalie überlegte, ob es auch den Jungs aufgefallen war. Wohl kaum. Sie war froh, dass Jo nun vorne saß und Frank neben ihr. Es beruhigte sie.
»Willst du deine Tasche nicht lieber hinten in den Kofferraum tun?«, fragte Frank, beugte sich vor und griff nach dem Gepäckstück, das Jo auf seinem Schoß hielt. Mit einem heftigen Ruck seines linken Arms verhinderte Jo, dass Frank die Taschenhenkel fassen konnte.
»Nein«, sagte er barsch und eine Spur zu aggressiv. Seine Stimme überschlug sich fast. »Hände weg von meiner Tasche!« Nach einer kurzen Pause hängte er noch ein halbherziges »Bitte« dran.
»Schon gut, Mann! Keine Folklore.« Frank lehnte sich zurück und grinste. »War ja nur ein Vorschlag. Hast wohl einen Goldschatz dabei?! Könntest aber wenigstens deine Kapuze abnehmen, nur so aus Höflichkeit.«
»Nein«, kam es erneut aggressiv von vorne.
Benni hatte endlich gezahlt und stieg wieder in den Wagen. Bevor er den Motor anließ, fiel sein Blick auf die schmutzige Reisetasche auf Jos Schoß. »Komm, ich tu die noch in den Kofferraum«, sagte Benni und hatte die Griffe schneller in der Hand, als Jo zunächst reagieren konnte.
»Nein!«, zischte Jo und schnappte seine Tasche. Eine kurze, absurde Rangelei um das durchnässte Gepäck entstand, bis Benni, verblüfft von Jos heftiger Reaktion, die Griffe losließ und »Mann, schon gut« sagte. »Anschnallen, es geht los.«
Auf der Fahrt, die sie zunächst auf der Bundesstraße Richtung Dachau führte, versuchte Frank ein Gespräch in Gang zu bringen.
»Hast echt Glück, dass wir fast in dieselbe Richtung müssen, Jo. Wir sind auf dem Weg zu einem Kumpel, dessen Eltern haben sich in der Nähe von Weichs einen voll geilen alten Bauernhof gekauft. So richtig heimatfilmmäßig, das Teil. Von siebzehnhundertnochwas. Angeblich. So voll mit Holzverkleidung und fetten Geranien am Balkon und so. Na, dem seine Alten haben Kohle wie andere Leute Silberfischchen.« Frank lachte blöde.
Jo grunzte grimmig, die Bauernhöfe von Franks Freunden schienen ihn mäßig zu beeindrucken.
»So was kostet heute eine Menge. Noch dazu im Einzugsgebiet von München«, plapperte Frank munter weiter. »Da macht er heute eine Grillparty. Bestimmt voll cool. Party all night long und morgen wird die Schule geschwänzt. Aber Kacke, dass es ausgerechnet heute so ein Gewitter geben musste. Dabei war das bisher doch der absolute Hammersommer. Jeden Tag über dreißig Grad und kein Wölkchen am Himmel. Und das seit Mai, aber grad heute, wenn die Party steigt, muss es pissen. Na, hat ja zum Glück auch wieder aufgehört und es ist immer noch pisswarm draußen. Voll thailandmäßig. Warst du schon mal in Thailand?«
Mehr als ein Grunzen kam nicht vom Kapuzenmann.
»Und du?«, unternahm Frank einen erneuten Anlauf. »Was machst du so in Vierkirchen? Wohnst du da?«
»Hmmm«, antwortete Kapuzenjo unbestimmt.
»Jo. Was soll das eigentlich für ein Name sein?«, fragte Frank weiter. »Ist das eine Abkürzung für Josef? Joe oder Sepp war dir wohl zu prollig?«
»Stimmt«, sagte Jo kurz angebunden und sah aus dem Fenster.
»Mann, kapier doch endlich, dass dein neuer Freund nicht reden will. Lass ihn in Ruhe«, sagte Nathalie zu Frank, bevor der zu einer neuen Frage ausholen konnte. Ihre anfänglichen Bedenken gegen den Tramper hatten sich zerstreut. Obwohl ihr aufgefallen war, dass er unangenehm roch – nach Muff, nach nassem Hund. Sie war sich sicher, dass nur er diesen Geruch mit in den Wagen gebracht haben konnte, denn die drei Jugendlichen hatten sich für die bevorstehende Grillparty zurecht gemacht und eingeduftet. Frank neigte in fast allem zur Übertreibung, so auch beim Einsatz seines Lieblingsduftwassers Acqua di Giò. In einem völlig finsteren Raum voller Leute würde man Frank absolut zuverlässig herausriechen. Und Benni, mit dem Nathalie erst seit zwei Wochen ging, hatte heute das sündteure Vetiver von Etro aufgelegt. Sie liebte den Duft, er törnte sie an, besonders in Kombination mit Bennis Dreitagebart. Nicht mehr lange, und sie würde seinem Drängen nachgeben und ihm das schenken, was sie Splatterfilm-Markus verwehrt hatte. Sie wollte, dass Benni ihr erster war. Obwohl er manchmal ein Kotzbrocken sein konnte, wenn er es heraushängen ließ, dass seine Eltern mehr Geld hatten als ein durchschnittlicher Pubertierender Pickel.
»Nö, wieso?« Frank ließ sich nicht bremsen. »Wenns ihn stört, kann er es ja sagen! Gell, Jo? Und jetzt tu nicht so geheimnisvoll. Was …«
»Es stört«, unterbrach ihn der Kapuzenmann. »Ich sage, es stört, okay?! Nichts gegen dich und ich bin euch wirklich dankbar, dass ihr mich mitnehmt, aber ich habe keine Lust zu reden, okay?« Er drehte sich kurz um und sah Nathalie mit seinem bedröppelten Hundeblick flehend an. Das Mädchen schenkte ihm ein verständnisvolles Lächeln. Der Blick des Trampers wurde hart und kalt, er verzog den Mund zu einem kurzen fiesen Grinsen. So kurz, dass Nathalie sich nicht wirklich sicher war, ob sie es gesehen oder sich nur eingebildet hatte. Ihr fröstelte, nicht nur, weil die Klimaanlage des Wagens auf Hochtouren lief.
»Toll, bist ja eine richtige Stimmungskanone«, sagte Frank schmollend und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. »Das nächste Mal kannste an der Tanke verrecken.«
»Hey, Frankie. Lass mal gut sein!«, rief Benni seinen Freund zur Raison.
Es folgte ein Schweigen, das vom lauten Rauschen der Klimaanlage unterstrichen wurde und beinahe körperlich fühlbar war. Sie hatten Dachau hinter sich gelassen und fuhren weiter Richtung Ampermoching. Die Bundesstraße war schwach befahren um diese Uhrzeit. Nur gelegentlich durchschnitt der Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos die Dunkelheit der Sommernacht. Bei der Abzweigung nach Biberbach sagte der Kapuzenmann plötzlich fordernd: »Hier links.«
»Links?«, fragte Benni, »Nach Biberbach? Hast du nicht was von Vierkirchen gesagt?«
»Ja. Es gibt nicht nur einen Weg dorthin. Wir fahren durch Biberbach und dann rechts.« Es dauerte wieder einen Moment, bis er ein »Bitte« hinzufügte.
Benni tat, wie ihm geheißen. Der Fremde wusste mit Sicherheit am besten, wo er hin wollte. Nachdem sie den kleinen Ort hinter sich gelassen hatten, führte die Straße durch einen Wald, der kein Ende zu nehmen schien und vor allem deshalb den Autoinsassen irgendwie gruselig vorkam, weil vereinzelt geisterhafte Nebelschwaden durch das Unterholz zogen. Doch es waren nicht die dichten Schwaden schottischer Hochmoore, die in alten Edgar-Wallace-Filmen baskervillsche Hunde ankündigten, sondern eher dampfiger Dunst wie nach einem Tropengewitter. Der Kapuzenmann fing aus heiterem Himmel zu kichern an.
»Was ist denn nun so witzig?«, fragte Frank.
»Nichts«, entgegnete Jo und kicherte weiter. »Voll gruselig hier, was? Halt da vorne mal kurz. Ich muss noch was abholen.«
»Hier?«, fragte Benni ungläubig und sah sich suchend um. »Mitten im Wald? Was willste denn hier abholen? Hier ist doch nix.«
»Da vorne«, wiederholte Jo knapp und deutete in die Dunkelheit, dabei tropfte etwas von