Angst vor Bindung
Angst vor der Bindung und Abhängigkeit von anderen Menschen, also vor der Aufgabe der eigenen Persönlichkeit und Hingabe gegenüber anderen Menschen. Menschen mit dieser Angst tendieren dazu, distanziert zu wirken und Beziehungen als »Mittel zum Zweck« auf rein sachlicher Ebene zu leben. Sie sind freiheitsliebend, suchen die Unabhängigkeit, den Individualismus, sind eher ichbezogen und eigensinnig.
Angst vor Selbstständigkeit
Das Gegenstück zur Bindungsangst ist die Angst vor der Freiheit, also davor, selbstständig zu werden und vor Geborgenheits-Verlust. Dieser Typ tendiert dazu, sich selbst aufzugeben und in emotionale Abhängigkeiten zu begeben, um die Zuwendung und Anerkennung von anderen zu erhalten. Abhängigkeit und das Gefühl von »gebraucht-werden« erfüllt ihn mit Sicherheit. Diese Menschen meiden die Eigenständigkeit. Sie opfern sich für andere auf und neigen dazu, sich dadurch zu überfordern.
Angst vor Veränderung
Die dritte Angstform ist jene vor der Vergänglichkeit und damit verbunden auch die Angst vor dem Tod. Dieser Typ mag keine Veränderung und bekämpft sie sogar. Er würde lieber alles beim Gewohnten und Alten belassen statt sich neugierig Neuem und Unbekanntem zuzuwenden. Kontrolle und Planbarkeit gibt ihm Sicherheit. Der Fluss und die Unabsehbarkeit des Lebens sind ihm ein Greuel.
Angst vor Stillstand
Das Gegenstück zur Veränderungs-Angst ist die vierte Form: die Angst vor dem Endgültigen und der Notwendigkeit, insbesondere auch vor der Realität und Festlegung. Menschen dieses Typs neigen dazu, sich allen neuen Impulsen hinzugeben, sich unnötigen Risiken auszusetzen und sich zu verzetteln. Die aktuelle Wirklichkeit im Jetzt meiden sie. Grenzen, welche die Freiheit einschränken, bekämpfen sie und begeben sich lieber auf die rastlose Suche nach Wundern und Patentlösungen.
Nun fragen Sie sich vielleicht, warum Sie dazu eine Negativ-Skala verwenden sollen oder wo denn die Positiv-Skala bleibt. Dazu mehr im zweiten Teil dieses Buches, sobald es um das Handeln und Umsetzen unseres Mutes geht. Die unterschiedlichen Angst-Typen und deren Mischformen sollen im Moment nur einmal aufzeigen, dass unbehagliche Gefühle sehr vielschichtig sein können. Neben der Urangst vor Neuem, Ungewohntem und Unbekanntem gibt es jedoch auch gelernte Ängste. Jene Ängste, die wir uns antrainiert haben.
Alleine-Sein verheißt nichts Gutes
Vor ein paar Jahren durfte ich mit einer internationalen Führungsperson zusammenarbeiten, die mich wegen Entscheidungsfindungs-Themen rund um ihr Unternehmen aufsuchte. Nennen wir diese Person Herr Belfort. Während des Gesprächs erwähnte der gestandene Manager beiläufig in einem Nebensatz, dass er seit Jahren Angst habe, alleine zu sein. Herr Belfort hatte sich über lange Jahre Strategien zur Kompensation seiner ängstlichen Zustände zurechtgelegt und diese so sehr perfektioniert, dass kaum jemand seine Befindlichkeiten bemerkte. Er ließ sich von seinen Mitarbeitern zum nächsten Meeting fahren, seine Frau holte ihn täglich von der Arbeit ab, ja sogar beim Einkaufen brauchte Herr Belfort die Begleitung seiner Frau oder Tochter. Wenn er eine Konferenz besuchte, nahm er jedes Mal kurzfristig und »ganz spontan« eine Begleitperson mit. Was ihn dabei am meisten beunruhigte war nicht das Alleine-Sein an sich, sondern dass ihn die Angst, alleine zu sein, jederzeit überkommen könnte und er keine Kontrolle über sich selbst hätte. Es war also die Angst vor der Angst, die ihn heimsuchte!
Während unserer Zusammenarbeit tauchten wir tiefer ein und stießen sehr bald auf den auslösenden Grund seiner Angst. Herr Belfort hatte in der Vergangenheit ein traumatisches Erlebnis gehabt, das ihn zu der Überzeugung brachte, dass alleine zu sein ganz und gar nicht gut für ihn war. Seine Angst konnte klar einem bestimmten Ereignis zugeordnet werden, das maßgeblich daran beteiligt war, dass er seine Angst vor dem Alleinsein über Jahre hinweg antrainiert hatte. Herr Belfort saß in jungen Jahren alleine in seiner Wohnung auf dem Sofa, als das Telefon klingelte und man ihm mitteilte, dass sein Vater völlig unerwartet aus dem Leben gerissen worden war. In diesem Moment brach die Welt von Herrn Belfort zusammen. Seine damalige Einsamkeit beim Erhalt der schrecklichen Nachricht führte dazu, dass er von da an unbewusst davon überzeugt war, dass alleine zu sein absolut nichts Gutes verhieß. Von da an vermied Herr Belfort also konsequent alle Situationen, in denen er eventuell alleine sein könnte und konditionierte sich selbst auf unbewusster Ebene bis hin zur unerkannten Perfektion. Eine Erinnerung, welche sich unbewusst in sein Denksystem einnistete, um sich selbst zu schützen. Seine von da an antrainierte Strategie sah so aus, Situationen zu vermeiden, in denen er auch nur ansatzweise alleine sein könnte.
Wir arbeiteten gemeinsam punktuell an mentalen Strategien, damit er einen besseren Umgang mit seiner Angst vor dieser Angst fand. Bereits in unserer vierten Coaching Session fiel mir auf, dass seine Frau und Tochter ihn nicht begleiteten, wie die letzten drei Male. Als ich nach ihnen fragte, meinte er lakonisch, dass die beiden nun alleine zuhause seien. Er müsse ja schließlich üben und es sei ihm mit den gemeinsam erarbeiteten Mentalstrategien gut gelungen, den Weg zu mir alleine einzuschlagen. Er sei sogar schon alleine im Wald laufen gewesen, erzählte er begeistert. Die Angst sei zwar immer noch da, doch er gehe ganz anders damit um. Sie sei nicht mehr so groß und bedrohlich. Mit Hilfe von einfachen Gedankenspielen, imaginären Begleitpersonen, bestimmten Musiktiteln im Auto und schrittweisen neuen Erfahrungen gelang es ihm, sich sukzessive von seiner Angst zu befreien. Herr Belfort hatte herausgefunden, wo seine Angst saß und wurde auf diese Weise frei. Es war außerdem seine Grundlage, um noch bessere, mutigere Entscheidungen in seinem Unternehmen zu treffen.
Es muss nicht immer gleich eine Todesnachricht sein. Wie Herrn Belfort geht es vielen von uns auch mit alltäglichen Erfahrungen, erlebten Ereignissen und Begegnungen. Ob wir wollen oder nicht, wir bewerten jede Situation aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen und aktivieren unser internes, natürliches »Google-System«. Wir suchen unbewusst nach Referenzerfahrungen, ähnlichen Ereignissen in unserer Vergangenheit, beurteilen Gemeinsamkeiten bisheriger Begegnungen und bisheriges Wissen. Wird ein bestimmtes Ereignis, eine Erfahrung mit starken Emotionen beladen, erinnern wir uns später daran. Bewusst oder unbewusst. Sind dies negative Emotionen, wie Ekel, Wut, Neid, Angst, Panik, Ohnmacht, Trauer, Scham, kann es gut sein, dass wir von nun an eine Vermeidungsstrategie fahren, um in Zukunft solche und ähnliche Ereignisse um jeden Preis zu vermeiden, bis hin zur Überkompensation wie bei Herrn Belfort.
Überprüfen Sie Ihre Wahr-Nehmung
Auch Sie haben bestimmt schon unzählige Male die Metapher vom berühmt-berüchtigten halbvollen oder halbleeren Glas gehört und wissen daher genau, dass wir in kritischen Momenten nur einfach mal schnell positiv denken müssten! Das ist für viele Menschen jedoch viel einfacher gesagt, als gedacht. Wenn jemand gerade »den Blues hat« und einfach nicht gut drauf ist, bringen diese beliebten Metaphern, Kalendersprüche und Motivations-Parolen wenig bis nichts. Im Gegenteil, sie nehmen die aktuelle Gemütslage der Betroffenen nicht ernst und bagatellisieren die Situation, was nur noch zu stärkerer Abwehr und schnellerem Rückzug führt. Wir alle bewerten Situationen nun mal auf unterschiedliche Art und Weise. Das hatten wir schon so bei den Ängsten – Sie erinnern sich? Was wir wahrnehmen und somit auch als wahr annehmen, hängt primär von unserem ureigenen Repräsentationsystem ab, also unseren fünf Sinneskanälen und anschließend von unserer Bewertung und Abgleichung bisheriger Erfahrungen. Dieser Abgleich geschieht meist unbewusst und innerhalb von Millisekunden. Bevor wir uns im nächsten Teil dieses Buches mit der Bewertung beschäftigen, möchte ich mit Ihnen kurz in die Welt unserer fünf Sinneskanäle eintauchen:
Sehen (visuell), hören (auditiv), fühlen (kinästhetisch), riechen (olfaktorisch) und schmecken (gustatorisch). Wir erleben die Welt um uns aufgrund dieser fünf klassischen Sinne. Es sind quasi unsere Antennen, respektive die fünf Tore zu unserer Wahrnehmung und Interpretation. Abhängig davon, ob wir etwas nur sehen, nur hören oder beides zusammen, erleben wir es unterschiedlich intensiv. Als 1895 die Gebrüder Lumière im »Grand Café« in Paris den ersten öffentlichen