Die Zukunft stellt unbequeme Fragen
Niemand von uns verfügt über eine Glaskugel, aus der man wirklich zuverlässige Prognosen der Zukunft deuten kann. Prognosen bleiben Prognosen und bergen stets den Faktor Unsicherheit in sich. Gerade jetzt – während ich diesen Abschnitt schreibe und Corona nicht nur in aller Munde ist, sondern auch medial sämtliche globalpolitischen Themen unterspült und die Flüchtlingssituation, die Handelskriege, Fridays for Future, den Brexit, die Situation in Syrien aus dem Radar der Interessen drängt – stellt sich mir die Frage: Wo ist die vermeintliche Sicherheit geblieben? Die Menschen haben Angst vor einem Virus und suchen nach Orientierung, wie damit umzugehen ist. Welchen Prognosen können wir trauen, welche Quellen schenken uns Sicherheit, welche Epidemiologen sind vertrauenswürdig, welche Zahlen geben uns Aufschluss und bieten uns die Informationsgrundlage, unsere eigene Meinung zu bilden, Entscheidungen und Handlungen abzuleiten? Es gibt viel Meinung, aber scheinbar nur wenig Ahnung. Wir befinden uns schlagartig innerhalb von Tagen und Wochen inmitten der größten Wertediskussion, wie ich sie in meinen bisherigen Lebensjahren niemals vorher wahrgenommen habe. Man schaut, was andere tun, was andere sagen, welche Promis mit »gutem« Beispiel vorangehen, wer ignoriert, wer polemisiert und wer verleumdet. Was bedeutet Solidarität überhaupt? Und welchen Preis hat die gesellschaftliche Gesundheit? Was kostet ein Menschenleben? Welchen volkswirtschaftlichen Wert hat ein gesunder 30-jähriger, wieviel eine 85-jährige mit drei Vorerkrankungen? Fragen, die unangenehm und schwer zu beantworten sind, die wir uns jedoch zu dieser Thematik alle stellen. Es ist eine Wertediskussion, die öffentlich noch nicht richtig stattfindet, da alle mit sich selbst und ihrer Situation und ihrem Umfeld beschäftigt sind. Firmen versuchen sich gerade digital neu zu organisieren, Führungspersonen erfahren, was es heißt, via Zoom, Teams, Skype und anderen Tools auf Distanz zu führen, und Schulen sind ebenfalls gefordert, den Lehrplan auf Distanz durchzubringen. Ein unglaublicher Kraftakt aller Beteiligten! Da bleibt keine Zeit für die notwendige Wertediskussion. Noch nicht. Doch sie wird bestimmt stattfinden, ja stattfinden müssen. Die Zukunft stellt uns unbequeme Fragen, wir brauchen mutige Antworten! Diese Diskussion erfordert Zuversicht, Verantwortung und Beteiligung von uns allen. Sie wird unsere Haltung sowie unsere Entscheidungen und Handlungen und in letzter Konsequenz unsere Zukunft maßgeblich beeinflussen. Und diese offizielle Diskussion erfordert vor allem eines: MUT.
In diesem Zusammenhang sollten wir uns die folgende Frage stellen: Bedeutet das Leben nicht per se Risiko und Unsicherheit? Ist die Sicherheit, nach der wir uns sehnen und in welcher wir uns suhlen, nicht ohnehin eine Schein-Sicherheit und repräsentiert lediglich ein gutes Gefühl? Gegenüber unseren Vorfahren hat sich unsere Lebensqualität deutlich verbessert, die Lebenserwartung eindeutig verlängert. Wohlfahrt und Fortschritt haben unumstritten stattgefunden. Neue Technologien unterstützen unseren Alltag, vereinfachen unsere Arbeit, verlängern unser Leben. Algorithmen geben uns vor, was wir tun, wie viele Schritte wir täglich aufrecht gehen, was wir essen, trinken, lesen, schauen und hören sollen. Um fit und gesund zu bleiben, schauen wir uns Tutorials an und vertrauen auf Apps und auf die künstliche Intelligenz, die dahintersteckt. In vielen Bereichen unseres Alltags gibt es kaum noch Risiko. Und wenn, dann erkennt es der Algorithmus in der Cloud rechtzeitig und warnt uns davor! Direkt oder indirekt über die Gesundheitskasse, die Bank, die Versicherung, das Kreditkartenunternehmen, Google, Apple, Facebook oder Amazon. Im Falle einer Pandemie, wie wir sie alle jetzt kennenlernen durften, hilft uns eine Tracing-App, zurückzuverfolgen, wo und wann die Ansteckung stattgefunden hat und wer der Überträger war. Ist das wirklich die Sicherheit, nach der wir uns sehnen? Und wenn ja, zu welchem Preis fordern wir diese ein? In welcher Zukunft wollen wir leben, und wie nutzen wir unsere technologischen, digitalen und humanen Ressourcen?
Dass die Propheten von gestern die Deppen von morgen sind, das kennen wir nicht nur aus der Wirtschaft, wo immer wieder Schwarzmaler und Endzeitbotschafter auftreten und den nächsten Börsencrash oder gar den Untergang der Finanzmärkte prophezeien. Wer in seinen Prognosen mehr als dreimal richtig lag, wird gefeiert, wer falsch war, geht im Sumpf der Scharlatane und Verschwörungstheoretiker unter. Um all dem entgegenzutreten, braucht es Mut. Und dabei existieren doch so viele Gründe, Angst zu haben.
Egal, ob es um unsere berufliche oder private Zukunftsplanung geht, wir alle tragen Verantwortung und gehen unsere Entscheidungen betreffend oft hohe Risiken ein. Es handelt sich also darum, aufgrund der uns zur Verfügung stehenden Informationen richtige Entscheidungen zu treffen. Auch das erfordert Mut. Aufgrund immer kurzfristigerer Kadenzen wird Mut ein entscheidender Erfolgsfaktor sein, wenn es um unsere Zukunft geht. Nicht nur unsere eigene, sondern auch unsere gemeinsame und selbst die Zukunft unserer Nachkommen.
Planung, Kalkulation und Produktentwicklungen sind bei zunehmendem Tempo der Entwicklungen kaum mehr möglich, agile Arbeitsmethoden wie Lean Startup, Design Thinking oder Scrum halten Einzug in unseren Alltag, um iterative Prozesse zu unterstützen. Der Außendienst startet den Verkauf von Produkten und nimmt Vorbestellungen von Kunden entgegen, bevor Forschung und Entwicklung überhaupt abgeschlossen sind – sofern sie jemals abgeschlossen werden. Können Sie sich an die Zeit erinnern, als es noch Menschen gab, die sich dem Handy-Boom anfangs der 2000er-Jahre verwehrten? Es war wie eine kleine Revolution gegen die damals gängigen Handy-Produzenten wie Nokia und Sharp und ein Zeichen gegen das Establishment und bisherige gesellschaftliche Konventionen. Um diese Menschen ist es inzwischen schon längst still geworden, ich bin wohl schon zehn Jahre lang keinem Zeitgenossen mehr begegnet, der bewusst auf die Vorzüge eines Smartphones verzichtet, um ein persönliches Statement abzugeben. Können Sie sich erinnern, als es noch Menschen gab, die keine E-Mail-Adresse hatten, obwohl jede Visitenkarte dieser Welt schon mit @-Zeichen versehen war? Auch sie sind mittlerweile ausgestorben. Die Entwicklungen unserer Zeit lassen sich nun einmal nicht aufhalten. Von niemandem. Wir alle tragen die Verantwortung, sie neugierig und dankend und ja, mutig, anzunehmen oder – aus eigenen Stücken – uns dagegen zu verschließen. Die Frage lautet vielmehr: Wie gehen wir damit um, wie setzen wir diese neuen Technologien, die in den nächsten Jahren noch massiv auf uns einwirken werden, ein? Wenn wir uns verwehren, werden wir kaum Einfluss darauf nehmen können und sie daher nicht aktiv mitgestalten. Wir sind dann bloße Zuschauer am Rand jenes Spiels, wo die Musik läuft. Wollen Sie das? Wollen Sie angstvoll am Rande des Spielfelds zaudern, vielleicht sogar weglaufen? Oder doch lieber Verantwortung übernehmen und eine mutige Entscheidung treffen? Trotz Ihrer Ängste? Gerade wegen Ihrer Ängste! Sich nicht zu entscheiden ist auch eine Entscheidung, wenn auch selten die beste.
Ängste – allüberall
80 Prozent der Deutschen, 75 Prozent der Österreicher und 60 Prozent der Europäer sagen, dass sie vor der Zukunft Angst haben, schreibt der Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx. Zeitgleich geben gemäß Umfragen beinahe genauso viele Menschen an, zufrieden, glücklich oder sogar sehr glücklich zu sein. Ist das nicht ein Widerspruch? »In der Schweiz leidet jede siebte Person an einer Form von Angst, auch ohne Corona-Bedrohung«, so die NZZ am Sonntag in ihrem Magazin. Gehört die Angst mittlerweile