Zu den klassischen fünf Sinnen kommen inzwischen weitere hinzu, wie beispielsweise das Gleichgewicht (Balance), das Temperaturempfinden und die räumliche Empfindung (Propriozeption), also wie wir unsere eigene Körperlage im Verhältnis zu einem Raum wahrnehmen. Die Wissenschaft spricht teilweise schon von bis zu dreizehn menschlichen Sinnen, wobei hierzu keine Einigkeit herrscht. Nun ist es so, dass wir uns bestimmte Sinne besser antrainiert haben als andere. Der visuelle Sinnesreiz ist bei den meisten Menschen der stärkste und liefert rund 80% aller Informationen, die wir im Gehirn verarbeiten, und beschäftigt rund ein Viertel unseres Gehirns.
Am Anfang meiner Selbstständigkeit begleitete ich ein größeres Projekt für eine Non-Profit-Organisation im Sehbehindertenbereich. Während dieser Zeit gewann ich einen Einblick in die tägliche Arbeit und Schulung von und mit sehbehinderten und blinden Menschen. Durch die starke Beeinträchtigung ihres visuellen Sinneskanals sind diese Menschen darauf angewiesen, ihre gesunden Sinneskanäle zu schulen und zu kompensieren, um so nicht nur in ihrem Alltag, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt bestmögliche Chancen zu erlangen. Eines Tages durfte ich einem erblindeten Ausbilder dieser Institution über die Schultern schauen, als er an seinem PC etwas vorbereitete. Aus den neben ihm stehenden Lautsprechern erklang eine für mich unverständliche, synthetische Roboter-Stimme. Nicht einmal die Sprache dieser Stimme konnte ich identifizieren. Es stellte sich heraus, dass der Ausbilder sein Bildschirmlesegerät auf ein Tempo von mehr als 400 Wörtern je Minute eingestellt hatte! Für mich war das natürlich viel zu schnell, ich verstand kein Wort, während der Ausbilder täglich in diesem Tempo Dokumente in Excel, Word & Co. hört, versteht und damit arbeitet. Ich war fasziniert und von größtem Respekt erfüllt! Ich fragte ihn, wie lange es dauern würde, das Bildschirmlesegerät in diesem Tempo zu verstehen. Er meinte, dass ein Anfänger mit ca. 150 Wörtern in der Minute startet und er als geübter Ausbilder einfache Texte bis auf 500 Wörter und mehr in der Minute verstehen kann. Dieses Beispiel zeigt beeindruckend auf, wie wir unsere Sinnes-Fähigkeiten gezielt trainieren und ausbauen können.
Um Ihre persönliche, facettenreiche Wahrnehmung zu trainieren, empfehle ich Ihnen folgende Übung: Trainieren Sie jeweils eine Woche lang gezielt einen anderen als Ihren Sehsinn. Starten Sie beispielsweise mit Ihrem Gehörsinn, in der Folgewoche schärfen Sie Ihren Geruchssinn, in der dritten Woche Ihren Geschmackssinn usw. Hören Sie dazu in vermeintlich unspektakulären Situationen, wie beim Anstehen an der Kasse im Kaufhaus, beim Warten an der Bushaltestelle, im Zug, in einem Restaurant oder im Aufzug, einmal so richtig bewusst hin, welche Geräuschkulissen sich Ihnen anbieten! Sie werden völlig andere Töne, andere Nuancen wahrnehmen als bisher. Plötzlich hören Sie ungewohntes Vogelgezwitscher in Ihrer vertrauten Umgebung, verstehen die Stimmen im Hintergrund, genießen sogar das Schnurren des Rasenmähers aus der Ferne. Sie werden erstaunt sein, was Sie alles entdecken werden und wie vielfältig Ihre Sinne sein können! Warum ich das vorschlage? Weil Sie mit geschärften Sinnen fähig sind, differenzierter wahrzunehmen. Das gilt nicht nur für Rasenmäher- und Vogelgeräusche, sondern genauso für die Kommunikation mit anderen Menschen in wichtigen Gesprächen. Achten Sie auf die Zwischentöne, auf die feinen Nuancen zwischen den Zeilen. Darauf, ob jemand am Ende des Satzes in der Tonlage mit der Stimme nach oben oder nach unten geht. Welche Worte stärker oder lauter ausgesprochen werden als andere. Sie werden dadurch nicht nur besser und aktiver zuhören und verstehen, Sie werden auf einmal die vermeintlich unwichtigen Dinge wahrnehmen, die man zwar meint, aber Ihnen nicht sagt. Dadurch gewinnen Sie einen entscheidenden Empathie- und Kommunikations-Vorteil. Sie werden unausgesprochene Unsicherheiten, Zweifel und Ängste bei Ihren Mitarbeitern und Teamkollegen erkennen. Gerade als Führungsperson möglicherweise ein entscheidender Wissensvorteil, der Ihnen die Chance bietet, Ängste offen und direkt anzusprechen und zuvorkommend und unterstützend Hilfe zu bieten. Wagen Sie es auch in solchen Momenten, verblüffend und sehr direkt einzutauchen!
»Life is a dive« – Die gewünschte Veränderung liegt oft unter uns
Ich habe sechzehn tauchende Gäste auf dem Tagesboot. Es ist Mittag, wir haben bereits zwei Tauchgänge hinter uns, ein dritter ist für den Nachmittag geplant. Während wir tauchten, hatten Wind und Wellen stark zugelegt. Der Captain informiert mich, dass es während dem vorgesehenen Mittagessen auf dem Rückweg etwas stürmisch werden könnte. Er startet den Bootsmotor und nimmt Kurs auf Sharm El Sheikh. Während die Bootscrew das Mittagessen vorbereitet, ziehen die Gäste ihre Tauchanzüge aus, checken ihre Tauchcomputer, nehmen Logbucheinträge vor, und die Fotografen unter den Tauchern kümmern sich um die heutige Ausbeute an Unterwasserbildern. Der weiter auffrischende Wind ist unter der heißen ägyptischen Sonne geradezu wohltuend. Doch der Wellengang nimmt zu, wird kantig und ruppig. Die Wellen kommen direkt aus der Fahrtrichtung und treffen frontal auf die Nase des Bugs. Der Captain steht vor dem Dilemma, direkt durch die Wellen und auf schnellstem Weg zurückzufahren oder aufzukreuzen und die Wellen sauber und sanft auszureiten. Er fragt mich um meine Meinung. Ich überlege. Zeitlich sind wir gut im Tagesplan, direkte Gefahr besteht keine. Wir entscheiden, während des Essens die weitere, längere und sanftere Fahrweise einzuschlagen und die Situation danach neu zu beurteilen. Aus der Kombüse duftet es köstlich nach frittiertem Huhn, gebratenen Kartoffeln, Gemüse, Falafel und Reis. Einige Passagiere reagieren bereits sensibel auf die heftigen Schaukelbewegungen des Bootes und geben mir zu verstehen, dass sie nichts essen können. Ich versuche sie zu überzeugen, dass es gerade jetzt wichtig ist, etwas im Magen zu haben, sie sich aber auf Reis, Kartoffeln oder das ägyptische Fladenbrot Aish Baladi beschränken sollten. Ich bin dankbar, dass sie meinem Rat folgen, denn sie brauchen schließlich neue Kräfte für den geplanten dritten Tauchgang.
Nach dem Mittagessen weht der Wind noch stärker, der Wellengang wird stetig höher. Der Captain versucht immer noch, die Wellen bestmöglich auszureiten und möglichst sanft durch sie hindurchzufahren. Trotzdem schaukelt das Boot heftig, der Rumpf schlägt immer wieder hörbar und spürbar auf die Wasseroberfläche. Die Gesichtsfarbe der meisten Gäste nähert sich bereits einem hellen Grünton, die Urlaubsbräune hat sich kurzfristig verabschiedet. Teller fliegen durch die Gegend, Gläser wirbeln durch die Luft. Trotz ihrer Seekrankheit versuchen die Gäste hektisch, ihre Kameras und anderen Utensilien in Sicherheit zu bringen. Da ich Seekrankheit glücklicherweise nicht kenne, sehe ich es als meine Aufgabe, zwischen Captain, Crew und Gästen zu vermitteln und zu kommunizieren, welche Linie wir durchs Wasser zurück ins Hotel fahren und wie lange es noch dauern wird. Mit ermunternden Worten und diversen Anekdoten aus dem Tauchleben versuche ich, die Gäste so gut wie möglich abzulenken. Doch es nützt nichts. Auf dem Tauchboot herrscht jetzt beklemmendes Schweigen. Ich spüre, wie Angst sich ausbreitet und wie ein grauer Dunst über meinen Tauchgästen hängt. Was kann ich nur tun, um diese Situation zu entspannen? Ich habe eine Idee!
In ca. 30 Minuten erreichen wir Ras Mohammed, dahinter befindet sich die Bucht von Marsa Bareika. Möglicherweise ist es dort ruhiger und windgeschützter als hier draußen auf offenem Meer. Am Eingang der Bucht liegt der Tauchplatz Ras Za'atar. Ich bin mir sicher, dass die Wellen unter Wasser kaum zu spüren sein werden. Wir werden unseren dritten Tauchgang hier und jetzt in dieser Bucht absolvieren! Der Captain schließt sich meiner Meinung an. Nun gilt es nur noch, meinen seekranken Gästen diesen Plan schmackhaft zu machen! Im Rhythmus der schaukelnden Wellen hangle ich mich also von Gästegruppe zu Gästegruppe, bis ich alle sechzehn Tauchgäste erreicht und meine »Verkaufsargumente« für diesen Tauchgang platziert habe. Ich stoße auf Unglauben und tiefe Ablehnung. Ein Gast ruft »einfach nur weg hier, runter von diesem schaukelnden Boot«. Die meisten stimmen ihm zu. »Genau das ist ja die Idee, wir verlassen das Boot!«, bestätige ich mit strengem Blick und pointiertem Zeigefinger.
Ich weiß nicht mehr wie, doch irgendwie schaffe ich es, alle Tauchgäste davon zu überzeugen, dass ein sofortiger Tauchgang viel ruhiger und angenehmer sein wird, als weiterhin auf diesem wild schaukelnden Boot zu verharren. Alle ziehen zwar zögerlich, aber doch, ihre Tauchanzüge an und scheinen darüber sogar ihre Übelkeit zu vergessen. Nach meinem Strömungscheck springen alle sechzehn Gäste von der Plattform am Heck ins Wasser. Die Wellen sind zwar immer noch da, doch spürbar milder! Wir lassen uns fallen und auf bereits fünf Meter Tiefe finden