Ein Beispiel: Die PatientIn erzählt der Therapeutin, dass sie in der Nacht vor der Sitzung von einer unüberwindbaren Mauer geträumt hat. Die TherapeutIn fragt sich: »Wie kommt es, dass ich dieser PatientIn in der letzten Sitzung wie eine unüberwindbare Mauer erschienen bin?«
Hier gilt es, nicht die Übertragungslogik der Projektion, sondern die Figur/Hintergrund-Dynamik näher zu betrachten. Die TherapeutIn fragt sich: »Warum sucht sich die PatientIn aus den vielen möglichen Stimuli, die meine Anwesenheit bietet, einige aus, während sie andere ignoriert?« Die Hypothese besagt, dass es für diesen bestimmten Stimulus einen »Aufhänger« gibt, in Gestalt eines beziehungsbezogenen Bedürfnisses, das die PatientIn erfüllen will. Ihre Projektion (hier wäre es besser, von Wahrnehmung zu sprechen) hat immer mit der TherapeutIn selbst zu tun, deren persönliche Eigenschaften als notwendige Aspekte für die Ko-Kreation der Beziehung betrachtet werden.
In dem klinischen Beispiel sagt die PatientIn zu Beginn der Sitzung: »Letzte Nacht habe ich von einer Mauer geträumt. Sie ragte vor mir auf, unüberwindbar. Ich konnte weder ihren Anfang noch ihr Ende sehen. Ich bin mit dem Gefühl aufgewacht, nicht weitergehen zu können. Ich wusste nicht, wo ich sonst hingehen sollte.« Welchem Erlebenshintergrund entspringt die Figur der Mauer? Und was noch wichtiger ist: Welche Kontaktintentionalität bestimmt die Entstehung dieser Figur? Wenn der Hintergrund der Erfahrung zu dem phänomenologischen Feld gehört, das durch die Anwesenheit von PatientIn und TherapeutIn ko-kreiert wird, muss die Entstehung der Figur mit diesem Kontakt zu tun haben.
Der folgende Dialog entwickelt sich:
Die TherapeutIn fragt: »Wie kommt es, dass ich Ihnen in der letzten Sitzung wie eine unüberwindbare Mauer erschienen bin?«
Die PatientIn ist ein wenig aufgebracht. Sie sagt: »Sie … die Mauer …?«
TherapeutIn: »Konzentrieren Sie sich auf die Erfahrung mit der Mauer in Ihrem Traum und denken Sie an unsere letzte Sitzung. Denken Sie, dass da eine Übereinstimmung besteht?«
Die PatientIn denkt konzentriert nach, dann sagt sie: »Es war, als ich vor Ihnen die Fassung verloren habe. In diesem Moment hätte ich Sie gern umarmt. Sie zeigten keine Regung. Ich habe mich so gefühlt wie mit meinem Vater, als ich klein war. Ich konnte ihm nie sagen, wenn ich ein Problem hatte oder wenn ich glücklich war. All meine Versuche, ihn zu erreichen, wurden von seiner Strenge abgeschmettert. Sein ernster Blick war wie ein Blitz, der mich erstarren ließ. Bei Ihnen hatte ich das Gefühl, aus dem Gleichgewicht zu sein: Ich wusste nicht, wo ich in diesem Moment hin sollte. Vielleicht ist es sinnlos, spontan sein zu wollen.«
Die TherapeutIn: »Also war ich eine Mauer für Sie, als ich ihr Gefühl nicht akzeptiert habe. Danke, dass Sie mir die Gelegenheit geben, jetzt nicht so zu sein. Versuchen Sie, mir zu sagen, was Sie mir über ihr Gefühl in der letzten Sitzung nicht erzählt haben. Ich höre Ihnen zu.«
PatientIn: »Ich schäme mich ein bisschen.«
TherapeutIn: »Sie sind so daran gewöhnt, unüberwindbare Mauern vor sich zu haben, dass es Ihnen peinlich ist, wenn keine Mauer da ist.«
PatientIn: »Stimmt, das ist etwas Neues für mich.«
TherapeutIn: »Atmen Sie ein, sehen Sie mich an und erzählen Sie mir, wenn Sie bereit sind – beim Ausatmen – von Ihrem Gefühl. Ich höre Ihnen zu.«
Die PatientIn holt tief Luft, sieht die TherapeutIn an und sagt langsam: »Sie sind wichtig für mich. Ich mag Ihre Geduld, die Wärme, die ich intuitiv bei Ihnen spüre, wenn ich Sie ansehe. Danke, dass Sie hier bei mir sind.«
TherapeutIn: »Wie geht es Ihnen jetzt?«
PatientIn: »Gut, ich habe das Gefühl, das getan zu haben, was ich tun wollte. Ich fühle mich leicht und ich weiß, wo ich hin will. Es war wichtig für mich, Ihnen das zu sagen.«
Die TherapeutIn definiert die von der PatientIn eingebrachte Figur (die unüberwindbare Mauer) als eine sich herausbildende Eigenschaft der Figur/Hintergrund-Dynamik, die den therapeutischen Kontakt belebt. Dadurch kann sie die Kontaktintentionalität der PatientIn nachvollziehen und unterstützen, sodass sie sich im Kontakt zwischen ihnen entwickeln konnte. Man könnte fragen, wie wichtig es in diesem Fall gewesen wäre, mit einer tatsächlichen Umarmung den »Übergang« zu fördern. Meiner Meinung nach musste in diesem Fall die Unterstützung eher darauf gerichtet sein, den Wunsch nach einer Umarmung offenzulegen, sich selbst als jemand zu definieren, der eine Umarmung will, statt die physische Bewegung zu vollziehen: eine Unterstützung der Persönlichkeits-Funktion und nicht so sehr der Es-Funktion des Selbst (siehe Kapitel 2). Die konkrete Umarmung wird durch diese auf der Definition des Selbst basierende Unterstützung des Kontaktes mit dem/der anderen möglich. Es ist wichtig, dass die GestalttherapeutIn den Übergang nicht als Allheilmittel für die PatientIn betrachtet, sondern die Sensibilität entwickelt zu entscheiden, was tatsächlich nützlich für die PatientIn ist. Das Risiko besteht in der Retroflexion unausgesprochener Gefühle seitens der TherapeutIn selbst und seitens der PatientIn. Dieser Zustand würde Abhängigkeit und eine Desensibilisierung an der Kontaktgrenze zwischen ihnen schaffen. Angesichts der Verführung einer Umarmung von der TherapeutIn sagt die PatientIn dann nichts und bleibt mit einem verwirrten Nachgeschmack zurück (das war nicht wirklich das, was sie wollte), der möglicherweise außerhalb der Sitzung als Kritik an der TherapeutIn oder der Psychotherapie verbalisiert wird. Um nicht unkritisch in überholten, verallgemeinernden humanistischen Mustern stecken zu bleiben, muss eine GestalttherapeutIn in der Lage sein, die Kontaktintentionalität nachzuvollziehen, die eine Figur aus einem spezifischen Hintergrund des beziehungsorientierten Erlebens der PatientIn heraus entstehen lässt.
3.7 Das Selbst als Prozess, Funktion und Kontaktereignis
Eine Schwäche in der psychoanalytischen Theorie des Ich brachte die Begründer der Gestalttherapie dazu, eine neue Theorie des Selbst aufzustellen:
In der psychoanalytischen Literatur ist die Theorie des Selbst oder des Ich jeweils das notorisch schwächste Kapitel. In diesem Buch wagen wir es, eine neue Theorie des Selbst oder Ich zu entwickeln, indem wir die große Wirkung der schöpferischen Anpassung nicht weiterhin auslöschen, sondern bestärken. (Perls / Hefferline / Goodman, 2006, Bd. I, 49 f.)
Das Selbst, der Dreh- und Angelpunkt, auf dem alle psychotherapeutischen Ansätze basieren, wird in der Gestalt-Therapie als die Fähigkeit des Organismus betrachtet, spontan, absichtlich und kreativ in Kontakt mit seiner Umwelt zu treten. Das Selbst hat die Funktion, in Kontakt mit seiner Umwelt zu treten (in unserem Sprachgebrauch ist dies das »Wie« der menschlichen Natur).
Das Verständnis vom »Selbst als Funktion« ist unter den psychotherapeutischen und den Persönlichkeitstheorien nach wie vor eine einzigartige Sichtweise. Die Theorie der Gestalttherapie erforscht das Selbst als Funktion des Organismus/Umwelt-Felds im Kontakt, nicht als Struktur oder Instanz. Dieser Ansatz gründet sich nicht so sehr auf der Ablehnung von Inhalten und Strukturen. Vielmehr basiert er auf der Überzeugung, dass jeder, der sich eingehend mit der menschlichen