Die Wende vom intrapsychischen Paradigma hin zu dem der »Zwischenheit« impliziert, dass die TherapeutIn sich und die PatientIn nicht als separate Einheiten wahrnimmt, sondern als eine dialogische Gesamtheit –die PatientIn im Dialog mit der TherapeutIn / die TherapeutIn im Dialog mit der PatientIn (Yontef 2005). Jede Kommunikation seitens der PatientIn ist Teil der Gestalt der gegenseitigen Wahrnehmungen, durch die die beziehungsbezogene Intentionalität ausgedrückt wird, und erhält durch sie Bedeutung.
Ein Beispiel soll den Unterschied veranschaulichen. Ein Patient sagt: »Ich spüre eine Anspannung im Bauch, ich weiß auch nicht … es ist, als ob ich wütend wäre.« Wenn die TherapeutIn einen »intrapsychischen« Ansatz hat, wird sie versuchen zu verstehen, von welchen vergangenen Erlebnissen diese Wut stammt, auf wen oder was der Patient wütend ist usw. Vermutlich sagt sie: »Konzentrieren Sie sich auf Ihren Körper und spüren Sie nach, an was Sie dieses Gefühl erinnert.« Wenn sie stattdessen das »Zwischenheit-Paradigma« nutzt, wird sie ihre Aufmerksamkeit auf das richten, was in der »Zwischenheit« dazu geführt hat, dass die Figur der Anspannung und der Wut im Bauch hat aufkommen lassen. Sie wird fragen: »Wie lässt das Mit-mir-Sein Anspannung und Wut entstehen? Was an mir macht Sie wütend? Und was halten Sie mir gegenüber zurück, das Anspannung in ihrem Bauch verursacht?« Wahrscheinlich ist der Patient zunächst etwas irritiert. Die TherapeutIn fordert ihn auf, sich Zeit zu lassen und zu atmen. Dann antwortet der Patient: »Wenn ich dran denke, dass Sie mich eine Viertelstunde lang haben warten lassen, bevor Sie mich hereingebeten haben, werde ich wütend.« An diesem Punkt bricht etwas auf, das die Heilung eines zuvor gestörten Beziehungsmusters erlaubt. Der Patient kann der TherapeutIn gegenüber spontan sein und die Retroflexion auflösen, die als gewohnheitsmäßig gewähltes Beziehungsmuster Anspannung im Bauch verursachte.
Diese Art des therapeutischen Dialogs eröffnet dem Patienten die Möglichkeit, beziehungsbezogene Ängste zu überwinden, denen er durch eine Unterbrechung des Kontakts aus dem Weg gehen wollte (und die er dann vergessen hat). Wenn das aktuelle Beziehungsgeschehen erst einmal zurück an die Kontaktgrenze gebracht worden ist, kann die TherapeutIn eine ganze Reihe von gestalttherapeutischen Interventionen einsetzen, um die (inzwischen bewusste) Kontaktenergie zu unterstützen.
3.2 Die therapeutische Beziehung als realer »Fakt«: die Vorherrschaft der Erfahrung
Allgemein gesprochen betrachten psychotherapeutische Ansätze die therapeutische Beziehung als praktisches Werkzeug, mit deren Hilfe sich die realen Beziehungen im Leben der PatientIn verbessern lassen.8 Die Gestalttherapie hingegen misst der therapeutischen Beziehung den Charakter einer realen Erfahrung bei, die in dem Raum »zwischen« PatientIn und TherapeutIn geboren wird und ihre eigene Geschichte hat.
Die therapeutische Beziehung wird tatsächlich weder als Ergebnis von Projektionen von Beziehungsmustern gesehen, die Teil der Vergangenheit der PatientIn sind, noch lediglich als Versuchsstation für das reale Leben, in dem »Tests« mit Beziehungsmustern durchgeführt werden, die sich in der Welt draußen als effektiver erweisen würden. Zwischen PatientIn und TherapeutIn entsteht eine einzigartige, nicht reproduzierbare Beziehung, in der die beiderseitigen Wahrnehmungen verändert werden. Die Arbeit an Mustern der Vergangenheit hat zum Ziel, diese Beziehung zu verbessern, nicht vergangene Beziehungen. Das, was zwischen dieser bestimmten TherapeutIn und dieser bestimmten PatientIn geschieht, konstituiert die Behandlung als eine der vielen möglichen Erfahrungen von Behandlung. Dies impliziert, dass die GestalttherapeutIn sich ganz auf die Beziehung einlässt, dass sie ihr eigenes Selbst nutzt.
Die Behandlung baut tatsächlich auf zwei realen Menschen auf. Sie könnten zwar auch diverse Techniken anwenden, um sich einander zu öffnen, doch sie lassen sich mit all dem, was sie an Begrenztheiten mitbringen, spontan aufeinander ein, in eine Beziehung, die durch ihre komplementären Rollen klar definiert ist: Eine(r) gibt eine Behandlung und der/die Andere bekommt sie.
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Situation, die Isadore From gerne schilderte: Ein Patient erzählte ihm von einen Traum und begann mit den Worten: »Ich hatte letzte Nacht einen kleinen Traum.« Isadore From war ziemlich klein gewachsen. Bei seinen PatientInnen rief diese Tatsache Reaktionen hervor, die sie meist nicht zeigten, »wohlerzogen« wie sie waren. From war sich seiner Beschränkung vollkommen bewusst, als er auf den einleitenden Satz des Patienten erwiderte: »Ja! Klein, so wie ich.« Den Patienten machte dieser kleine Scherz zunächst betroffen. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, unhöflich zu sein. Dann brach er in befreiendes Gelächter aus. Er atmete tiefer und konnte nun mit Gefühlen der Zärtlichkeit und des Vertrauens in den Kontakt mit seinem Therapeuten treten – Gefühle, die er vorher blockiert hatte. Es war diese Begegnung zwischen Therapeut und Patient, in der Menschlichkeit ihrer Beschränkungen, die es dem Patienten ermöglicht hatte, seine verborgensten Gefühle zu offenbaren und sich in der Beziehung zu öffnen, mit einem Gefühl des Vertrauens in den anderen, das ihm bisher nur schwer zu erleben möglich war. Dieses Beispiel veranschaulicht, dass die Behandlung nach dem Verständnis der Gestalttherapie in der realen Begegnung zwischen zwei Menschen entsteht. Bei dieser Begegnung taucht etwas Neues auf, das die Fähigkeit des Patienten wiederherstellt, in Kontakt zu treten.
Eine ähnliche Ansicht finden wir bei Stern (2004; Stern et al. 2003), der die »persönliche Handschrift« einer TherapeutIn bei einer Intervention als einen wichtigen Faktor für psychotherapeutische Veränderungen betrachtet. Damit meint er ein bestimmtes Lächeln, eine bestimmte Art zu sprechen oder die PatientIn anzusehen: Sie gibt der PatientIn das Gefühl, dass dies die Art ist, wie die TherapeutIn sich mit einem wichtigen Menschen in ihrem Leben befasst.
3.3 Die Rolle der Aggression im sozialen Kontext und das Konzept der Psychopathologie als nicht unterstütztes Ad-gredi9
In seinem intuitivem Verständnis von Kindheitsentwicklung betont Fritz Perls das Element des Dekonstruierens, des Zerkleinerns, das mit dem Wachstum der Zähne einhergeht (dentale Aggression, Perls 1942). Dabei geht er davon aus, dass die menschliche Natur fähig ist, sich selbst zu regulieren. Diese Auffassung zeichnet sicherlich ein positiveres Bild als die mechanistische Vorstellung vom Menschen, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitet war (und die vor allem in der Freudschen Theorie deutliche Spuren hinterließ). Die Fähigkeit des Kindes zu beißen unterstützt und begleitet seine Fähigkeit, die Realität zu dekonstruieren. Diese spontane positive Aggression erfüllt nicht nur eine Überlebensfunktion, sondern ist auch von gesellschaftlicher Bedeutung. Sie macht es dem Individuum möglich, sich eigenständig das in seiner Umwelt zu beschaffen, was seine Bedürfnisse befriedigt, und es seiner Neugierde entsprechend zu dekonstruieren.
Die physiologische Erfahrung des Ad-gredi10 fördert die umfassende reorganismische Erfahrung, auf den anderen zuzugehen. Sie verlangt nach Sauerstoff, d. h. sie muss durch das Ausatmen ausgeglichen und unterstützt werden. Das Ausatmen ist ein Moment des Vertrauens gegenüber der Umwelt, in dem der Organismus sich entspannt und die Kontrolle abgibt, um spontan und selbstregulierend einen weiteren Atemzug zu tun und den Körper mit neuem Sauerstoff zu versorgen.
Das Aussetzen der Kontrolle, wo man sich dem anderen oder der Umwelt überlässt, ist das fundamentale Signal für den Rhythmus von Vertrauen und Kontrolle, damit dieser spontan ablaufen kann. Dies ist die Vorbedingung dafür, dass ein zweiter Rhythmus möglich wird, jener von Kreativität und Anpassung, der die aktive und die zurückgenommene Präsenz ausbalanciert, indem er das konstitutiv Neue im Kontakt mit dem anderen assimiliert.
Wenn diese Unterstützung durch den Sauerstoff ausbleibt, wird aus Erregung Angst. Die gestalttherapeutische Definition von »Angst« lautet »Erregung minus Sauerstoff«. Es fehlt die physiologische Unterstützung, um den anderen/die andere zu erreichen. Der Kontakt kommt in jedem Fall zustande (er kommt immer zustande, solange es das Selbst gibt oder solange es Leben gibt), doch die Erfahrung ist von Angst geprägt (Spagnuolo Lobb 2005d; vgl. Ruella 2001). Dies impliziert eine gewisse Desensibilisierung der Kontaktgrenze: Um die Angst nicht zu spüren, ist es notwendig, die Sensibilität im Hier und Jetzt des Kontaktes mit