»Ja, Musa«, sage ich. »Du hast meine Worte bestimmt noch im Ohr. Auch das Versklaven von Frauen widerspricht den Botschaften Allahs im Koran. Und das Töten anderer Menschen ebenso.«
»Ich bin jetzt seit drei Monaten hier«, sagt Musa. »Die ganze Zeit in der Haft denke ich darüber nach, ob ich falsche Dinge getan habe. Wahrscheinlich habe ich das. Aber dann wieder denke ich …« Er verhält, sieht mich unsicher an.
Der Eindruck von Intelligenz und Einsicht, den Musa mir zuletzt vermittelt hat, scheint in diesem Augenblick wie weggewaschen, fortgespült unter den Ausläufern einer Masse von aufrührerischen Worten, mit denen einer oder mehrere Hassprediger ihm seinerzeit die Seele geflutet haben.
Der radikale Same aus Hass und Niedertracht wurzelt enorm tief, sodass er immer wieder aufkeimt. Und doch erkenne ich erste Anzeichen einer Reue, wiewohl auf noch sehr wackeligen Beinen stehend und permanent unterlaufen von Zweifeln – nicht zuletzt auch neu entfacht von radikalen Mitgefangenen, denen der allmähliche Sinneswandel ihres Mitbruders nicht zu entgehen scheint.
Doch Musa vertraut mir. Und so gibt er auch nach und nach preis, was sein früheres Leben ausgemacht, was diesen radikalen Wandel in ihm entfacht hat. Puzzlestein um Puzzlestein fällt Musas Weg – dieser durch und durch klassische Weg – zum Extremisten vor mir zu einem abgerundeten Bild zusammen.
Musas Eltern sind in den Neunzigern aus Tschetschenien geflohen. Er wie auch seine Schwestern Hatija und Aisha wachsen bereits in Wien auf. Es ist eine Geburt in die Unterschicht. Eine Geburt in die Unterprivilegiertheit. Ein Katapultstart in Armut und gesellschaftliche Ausgrenzung. Der Vater, Fabriksarbeiter, verlässt die Familie kurz nach der Niederkunft seiner Frau mit der jüngsten Tochter. Musa hat ihn nie mehr wiedergesehen, weiß auch nicht, wo er sich seither aufhält.
Musas Verhältnis zur Mutter ist seit jeher innig. Sie zieht die Kinder alleine groß, sorgt für den kümmerlichen Unterhalt. Tagsüber jobbt sie bei einer Reinigungsfirma, abends und wochenends putzt sie in Privathaushalten. »Mama war oft nicht da«, sagt Musa. »Sie arbeitete ununterbrochen, hatte meist Rückenschmerzen.«
Als die Schwestern noch klein sind, passt er oft in der engen Zwei-Zimmer-Wohnung auf sie auf. Sie leben draußen in einer Wiener Siedlung am südlichen Stadtrand Wiens, einer jener immer häufiger anzutreffenden, zum Minighetto mutierenden Gegenden, wo die Kaufkraft der Menschen weitflächig und dramatisch ins Bodenlose sinkt. Aus unterschiedlichsten Gründen. Arbeitslosigkeit. Kriminalität. Oftmals eine Mischung aus beidem.
Die Schule schmeißt Musa bald hin. Er hat nicht mal einen Hauptschulabschluss. »Ich war nicht gerne dort«, rechtfertigt er sich. Er habe keine richtigen Freunde gehabt in der Schule, man habe ihn nicht gemocht. Freunde gewinnt er dafür rasch anderswo. Im Park, unweit der Wohnung. Mit ihnen verbringt er zunehmend Zeit. Man trifft sich. Bald regelmäßig. Bald jeden Tag. Oft kommt Musa überhaupt nur noch zum Schlafen nachhause. Abhängen im Park ist angesagt. »Wir haben nichts Schlechts getan«, sagt Musa. Nein. Damals noch nicht.
Die Zugehörigkeit zur Gruppe verleiht dem gestutzten Selbstwertgefühl der Burschen neue Flügel. Zusammen fühlt man sich stark. Zusammen fühlt man sich sicher. Irgendwann geht der neue Stolz soweit, dass man auch nach außen hin proklamiert: »Hey, Mann, wir sind keine Österreicher. Wir sind Ausländer.« Das grenzt ab. Und gibt ein Empfinden von Stärke.
Den meisten von Musas Freunden ist es wie ihm ergangen. Kein Schulabschluss. Keine Lehrstelle. Keine Perspektive. Warum sie keinen Job gefunden haben? »Weil wir Muslime sind«, sagen sie sich, sagen sie jedem, der es hören will oder auch nicht. Man wolle nicht, dass sie hier etwas erreichen. Putzen. Drecksarbeit verrichten, sagen sie. Das ja. Mehr nicht. Niemand akzeptiere, niemand brauche sie. Sie wissen nicht, noch nicht, dass das so nicht stimmt. Dass sie längst bei Menschen mit ganz eigenen Interessen auf dem Schirm stehen.
Als zwei neue Burschen sich der Gruppe im Park zugesellen, nehmen Musa und die Gang sie rasch auf. Mehmet und Ismael heißen sie. Sie erzählen vom Sinn des Lebens. Von Gerechtigkeit. Und sehr bald erzählen sie auch von Allah. Musa hat mit Allah bis dahin nicht allzu viel am Hut. Er ist als Muslim das, was man bei Katholischen oder Evangelischen einen Taufscheinchristen nennt. Der Glaube hat in Musas Familie bis dahin keine tragende Rolle gespielt. Doch was Mehmet und Ismael zum Besten geben, hat Charme, hat verführerische Kräfte und zieht nicht bloß Musa rasch in den Bann. Erst zaudert er noch, als sie ihm den Gang zu einem coolen Prediger ans Herz legen. Es sei ganz in der Nähe. Ein winziger Raum in einem Hinterhof. Musa hat ein flaues Gefühl im Magen. Man hört so einiges von dieser Art von Predigern. Man hört auch, sie würden die Welten junger Menschen auf eine Weise verändern, die nicht immer die beste ist.
Doch dann schließen sich zwei seiner Freunde Mehmet und Ismael an. Sie kehren wieder mit ungeteilter Begeisterung, erzählen, wie klug, wie belesen, wie beredt, wie freundlich und gütig der Prediger sei.
Das überzeugt Musa letztlich. Wie auch die anderen aus der Gang. Musa wäre also der Einzige gewesen, der nicht mitgeht. Er weiß, er ist womöglich der Klügste unter ihnen. Doch er ist mitnichten der Stärkste. Und auch nicht der Charismatischste. Er ist einer, der eben mitgeht. Mitläuft. Der sich nicht gerne selbst ausgrenzt. Und so folgt er dem Beispiel, dem Druck der Gruppe.
Tatsächlich hat dieser Prediger etwas, das Musa elektrisiert. Er strahlt nichts Düsteres aus. Er verbreitet Zuversicht. Und Gewissheit. Eine Gewissheit, die Vertrauen begründet, die ihn unausgesprochen zu einer starken Persönlichkeit erhebt, einem Führer, ohne dass er hätte darauf pochen müssen. »Er war wie mein großer Bruder, den ich nie hatte«, sagt Musa. Weise. Stark. Unwiderstehlich.
Der Prediger ist aber nicht bloß großer Bruder. Er ist bedeutend mehr als das. Er ist auch Freund. Man trifft sich zum Paintball-Spielen. Man verabredet sich in einem Internet-Café, teilt den gemeinsamen Nervenkitzel bei Counter Strike, einem Egoshooter-Klassiker. Auch, insbesondere an schönen Tagen draußen im Park, lehrt er sie sein Wissen über Kampfsporttechniken. Und zwischendurch werden Allerweltspläne geschmiedet, wird gescherzt. Geplaudert. Über dies und das. Und über Allah. Später dann, in seinen Predigten, geht es schärfer, bedeutend konkreter zur Sache. Man hört von den Ungläubigen. Davon, dass sie nichts als den Tod verdienen. Davon, dass der Islamische Staat der richtige Weg, der einzig richtige Weg dorthin sei. Der Aufbau des IS sei in vollem Gange. Doch es brauche noch mehr Kämpfer. Unerschrockene, von Leben und Gesellschaft Benachteiligte wie sie alle.
Es ist dies ein durch und durch typischer Weg der schleichenden Radikalisierung, den Musa und seine Freunde da durchlaufen. Fast schon klischeehaft. Ein Klassiker, der in unzähligen Nuancen auftritt, letztlich aber, die immer selbe Maske des Bösen zeigt.
Bald schon ist Musa und seinen Freunden klar: Die Zeit des sinnbefreiten Abhängens ist vorüber. Ihr Leben muss endlich (wieder) einen Sinn bekommen. Man hat sie auserwählt.
Man gibt ihnen die einmalige Chance, sich nicht bloß als Rädchen mitzudrehen im knirschenden Weltgefüge, sondern selbst einzugreifen, selbst etwas mitzubestimmen, eine Aufgabe zu erfüllen. Eine Mission. Eine göttliche Mission. Man stellt ihnen ein Ideal vor Augen, das ausreichend groß ist, dass sie sich fügen und dahinter zurücktreten, als Einzelner, dass sie sich zum Teil einer Gemeinschaft machen, um letztlich darin zu verschmelzen.
Ja, sagen sie eines Tages. Sie wollen das jetzt auch. Der Prediger findet lobende Worte für sie. Dann wieder mahnt er sie, nicht vom gerade erst eingeschlagenen Pfad abzufallen. Höllenszenarien werden beschworen für jene, die es im letzten Moment doch tun, die Schwäche zeigen. Himmlische Fanfaren ausgebracht für jene, die sich unerschütterlich zeigen. Wechselbäder der Gefühle ergießen sich über sie. Doch Musa und seine Freunde bleiben standhaft. Jetzt erst recht.
Abermals lobt sie der Prediger. Und er zeigt sich auch auf andere Weise erkenntlich. Er organisiert ihnen ein Auto. Geld fürs Benzin. Es reicht weit. Unbehelligt erreichen sie die türkische Grenze zu Syrien. Hier nimmt alles seien Lauf. IS-Schergen nehmen den fleischlichen