An diesem ersten Freitagmittag mit Musa stimmt etwas nicht. Und erst spät merke ich, dass ich es bin, der einigermaßen von der Rolle ist. Allzu kurz liegen die grauenvollen Attentate von Paris gerademal zurück. Die 130 Toten, ohne jede Gnade aus dem Leben gesprengt und niedergemetzelt auf dem Vorplatz des Stade de France, vor und in einigen Restaurants, insbesondere aber im Musikklub Bataclan am Boulevard Voltaire in der Stadt an der Seine, der irgendwann einmal jemand den Namen Stadt der Liebenden verpasst hat.
Es sind wie so oft die nichtig scheinenden Details, die allmählich an die Medien sickern und von dort zu den Menschen, um sich als schauderhafte Patina über die Seele zu legen, sich in ihr festzukrallen. Wie etwa, dass einer der Attentäter, ein vormaliger Busfahrer, inmitten des Schlachtens, inmitten der als Todesschwadronen losgesandten Maschinenpistolensalven die Bühne des Bataclan erreicht hat, um Xylophon zu spielen. Xylophon. Fast schon kind-haft-unschuldig anmutende Klänge wie zum Kontrast des unbegreiflichen Schreckens, Klänge, die das krasse Antlitz des Terrors nur noch stärker in die Erinnerung zementieren. Oder dass ein anderer Attentäter, den Sprengstoff an den Leib gegürtet, über dem Mantel eine Jacke mit Pelzbesatz und darüber eine Weste trägt und sich lächelnd bei den Gästen einer Brasserie entschuldigt, ehe er den Knopf drückt. Und wieder ein anderer, jetzt abermals im Bataclan, der gelegentlich am Laptop hantiert, während die Kollegen ihr Schlachten mit den Kalaschnikows ungerührt vollziehen. Bizarre Abfolgen von Linien und Zeichen seien auf dem Schirm zu sehen gewesen, sagt eine Zeugin später. Piktogramme einer Verschlüsselungssoftware, wie man bald weiß. Solche Dinge. Sie gehen nicht wieder weg, werden zu Sinnbildern sinnlosen Mordens.
Und so merke ich, während wir auf unsere Stühle sinken und Musa mich unsicher ansieht, dass ich ihn für einen kurzen Moment, unbewusst und auch ungewollt und auf eine rationell nicht nachvollziehbare Weise dafür, gerade dafür, was sich Stunden zuvor in Paris zugetragen hat, mit in die Pflicht nehme. Ob ich es nun will oder nicht, sagt eine Stimme in mir: Du bist einer von ihnen. Ob er nun in Paris mit von der blutrünstigen Partie war oder nicht. Ich besinne mich endlich.
»Rapid?«, frage ich. »Oder Austria Wien?« Der Klassiker zum Einstieg. Eisbrecher Fußball.
»Bayern«, sagt Musa.
»Ich auch«, erwidere ich, und alle beide lachen wir etwas spröde auf. Ausläufer eines Tattoos blitzen am linken Handgelenk auf, was es darstellt, bleibt Geheimnis seines Trägers und des langen Ärmels des schwarzen Kapuzensweaters, der die Abbildung verhüllt. Schon nach wenigen Minuten revidiere ich das Bild des farblosen Schwächlings, das ich bei der Begrüßung von ihm gefasst habe. Dieser Musa ist alles andere als gleichförmig. Alles andere als beliebig. Er scheint mir ein durchaus intelligenter Bursche zu sein. Wäre er in ein anderes Umfeld hineingeboren, überlege ich, wer weiß, vielleicht hätte er als Sohn eines Mittelschichtvaters eine ansprechende Karriere gemacht. Hätte womöglich studiert. Etwas mit Geisteswissenschaften, denn die Art, wie er sein eigenes Leben reflektiert, zu Fragen religiöser, aber auch allgemein philosophischer Natur Stellung bezieht, hebt sich von der seiner Mitbewohner entschieden ab.
Hat Musa nun vergewaltigt, gemordet? Hat er es »nur« bezeugt? Ich weiß es nicht, doch ich weiß, dass es mich nicht abhalten darf von dem, um dessentwillen ich herkommen bin. Junge Menschen wie er, achtzehn, vielleicht zwanzig Jahre, sind trotz ihres schon bewegten Lebens nicht unwiderruflich an ihre blutige Vergangenheit verloren. Der Kampf, sie zurückzuführen ans Licht, muss bis zuletzt gefochten werden. Lebenslanges Wegsperren ist in den meisten Fällen nicht möglich und auch nicht sinnvoll, wie ich anhand zahlreicher Beispiele noch darlegen werde. Dennoch wird einer wie Musa in absehbarer Zeit wieder in Freiheit sein. Die Möglichkeiten von Polizei und Staatsschutz, ihn und Seinesgleichen rund um die Uhr zu überwachen, sind endend wollend, und die Ängste der Bevölkerung allseits greifbar. Und diese als Radikale aktenkundigen Menschen sind auch überaus ernstzunehmen, wie wir noch sehen werden.
Viel Arbeit ist im Vorfeld einer Entlassung aus der Haft nötig, und im weiteren Kontext auch viel Vorwissen: Wie etwa, dass rund zwei Drittel jener, die als Extremisten Eingang in die Karteien gefunden haben, zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahre jung sind. Und dass die allergrößte Anfälligkeit zur Radikalisierung sich nicht zufällig in den Jahren rund um die Pubertät zeigt – jene Umbruchphase, die mit Beendigung der rein körperlichen Wandlung bei weitem nicht abgeschlossen ist. Oftmals hält sie noch jahrelang an, kann auch erst sehr verspätet einsetzen. Auch der renommierte französische Psychoanalytiker, Professor an der Universität Paris-Diderot Fethi Benslama, nimmt darauf in seinen Studien Bezug, legt alarmierende Zahlen für sein Heimatland vor, die über weite Strecken eins zu eins auf Resteuropa umzulegen sind. Er spricht von Adoleszenten oder jungen Erwachsenen, die sich in der Phase eines Moratoriums befinden, in dem die Adoleszenz möglicherweise ausgedehnt und die Krise verlängert wird.
Von größter Bedeutung ist an dieser Stelle aber auch etwas anderes, das ich für alle Beispiele vorausschicken möchte, die Ihnen in diesem Buch noch begegnen werden: Natürlich sind die jungen Menschen, oftmals Heimkehrer von Kriegsschauplätzen, traumatisiert und auf eine gewisse Weise Opfer.
Doch in jedem Fall sind jene, die sich tatsächlich aufmachen, die tatsächlich den Bau einer Bombe oder was immer in Angriff nehmen, immer auch Täter, die – Jugend hin, Blendkraft her – sich niemals aus ihrer Verantwortung stehlen können. Musa steht da mit seinen 20 Jahren gewissermaßen im Zenit dieses Altershorizonts einer ausgeprägten Gefährdung in punkto Radikalisierung.
Heranwachsende müssen sich erst selbst in Grundzügen kennenlernen, ihren Platz im Leben definieren und einnehmen, getrieben von Hormonen, Emotionen, dem Drang, alles infrage zu stellen, dem flammenden Bedürfnis, Neues zu definieren, und vor allem sind sie auf der Suche nach Idealen, für die zu leben es sich lohnt. Oft genug haben junge Radikale in ihrer Kindheit, Jugend einen Mangel an Vorbildern erlebt, es fehlt ihnen an Vätern, an denen sie sich erst aufrichten und später, auf der Jagd nach einer eigenen Identität, reiben können. Ein Aspekt allemal, der bisher vielleicht im Stillen beobachtet, doch kaum beachtet worden ist. Jugendliche werden bei ihrer Suche bisweilen auf sich selbst zurückgeworfen, auf die Ursprünge ihrer Existenz, und wenn sie an ihren Ausgangspunkt zurückkehren, zu Fragen des Seins und Sinns – wenn sie wissen wollen, was das Leben von ihnen will, ja, dann ist es gerade bei schwachen, wankelmütigen Charakteren für gewiefte Hassprediger ein Leichtes, sie genau dort abzuholen und auf die komplexesten Fragen die scheinbar simpelsten Antworten zu bieten. Labilen Seelen Struktur und Halt zu geben, ist eine Kernkompetenz von Religion, bloß dass hier der Missbrauch in der Maskerade des Bösen in Erscheinung tritt. Diesen Verführern ist es eine spielerische Selbstverständlichkeit, verirrte Menschen einzufangen wie der Rattenfänger die Kinder von Hameln. Der zu entrichtende Preis ist zum einen für die Gesellschaft, und zum andern für die Betroffenen selbst unbeschreiblich hoch. Sie verlieren ihre Jugend ohne den Zugewinn eines Erwachsenenlebens, das lohnt.
Erst vor zwei Jahren (!) hat man auf der verzweifelten Suche nach Ursachen und Gegenstrategien zur Radikalisierung begonnen, die in dem Zusammenhang bis dahin schon traditionellen Disziplinen, allen voran die Soziologie, auf wissenschaftlicher Ebene zu ergänzen. Es sind tiefgreifende, dringliche Aspekte, die man erst nach und nach zu beleuchten beginnt. Die systematische Zusammenführung herkömmlichen Wissens mit der Psychiatrie, der Psychologie und Psychoanalyse steht also erst am Anfang, während der Terror, sechzehn Jahre nach 9/11, auch in Europa längst eisenharte Wurzeln geschlagen hat. Natürlich sind soziokulturelle Bedingungen, Armut, Mangel an Bildung und gesellschaftliche Ausgrenzung wichtige Faktoren, die den Abfall eines Jugendlichen zum Extremismus begünstigen – doch sie sind bei weitem nicht die einzigen (dazu aber an anderer Stelle noch mehr).
*
Seit sieben Jahren bin ich nunmehr Imam hinter Gittern, sprich: Seelsorger für muslimische Häftlinge, und seit einiger Zeit auch der Leiter der Gefängnisseelsorge für ganz Österreich. Imam zu sein heißt, durchaus ähnliche Aufgaben und Funktionen zu übernehmen wie ein christlicher Pfarrer, sieht man von Beichte und Ölsalbung