Stefan Hauser/Nadine Nell-Tuor
Im bildungspolitischen, erziehungswissenschaftlichen und didaktischen Diskurs der letzten Jahre hat der Partizipationsbegriff eine wichtige Rolle gespielt. Zum einen hat sich Partizipation in einem normativen Sinn, das heißt als Postulat nach mehr schulischer Mitsprache, viel Gehör verschafft (Kiper 1997, Shier 2001, Eikel 2006), was zu einer zunehmenden Akzeptanz und Verbreitung schulischer Partizipationsformate (wie Klassenrat oder Schülerparlament) beigetragen hat.1 Zum anderen hat sich Partizipation in der Unterrichtsforschung auch in einem deskriptiven Sinn als Analysekategorie etabliert, was zu einem besseren Verständnis dessen geführt hat, was mit Breidenstein (2006) als «Schülerjob» bezeichnet werden kann (vgl. dazu auch Brandt 2004, 2015). Unterschiedlich deutlich machen sich dabei die Vorstellungen über den Zusammenhang von Sprache und Partizipation bemerkbar. Während für einzelne Themenkomplexe wie z. B. die Bildungssprache (Feilke 2012; Morek/Heller 2012; Gogolin/Duarte 2016) das Verhältnis von Sprache (bzw. Sprachgebrauch) und Partizipation im Fokus des Interesses steht, bleibt dieser Zusammenhang in anderen Bereichen des Partizipationsdiskurses eher im Hintergrund.
Anspruch dieses Sammelbandes ist es, die Diskussion um den Zusammenhang von Sprache und Partizipation im Schulfeld aufzugreifen und weiterzuführen. Mit der für den Untertitel dieses einleitenden Beitrags gewählten Metaphorik aus dem Bereich der Verwandtschaftsbezeichnungen wird die Frage gestellt, wie eng die Beziehung zwischen Sprache und Partizipation zu verstehen ist. Nun ist die Wahl von Metaphern – wie man nicht erst seit der Konjunktur kognitiver Metapherntheorien (vgl. dazu Lakoff/Johnson 1980) weiß – folgenreich. So ließen sich mit der gewählten Verwandtschaftsmetapher bestimmte (z. B. biologistische) Lesarten verbinden, die hier aber nicht mitgemeint sind (etwa über Abstammung und Vererbung usw.). Vielmehr soll die Rede von ungleichen Geschwistern und eineiigen Zwillingen die Frage zur Disposition stellen, wie das Verhältnis zwischen Sprache und Partizipation zu konzeptualisieren ist. Dabei soll es nicht darum gehen, eine richtige Antwort auf die – eher plakative – Alternativfrage zu finden. Zielführender erscheint es, sich damit zu beschäftigen, welche theoretischen Implikationen und welche praktischen Konsequenzen es hat, wenn man den Überlegungen und Beobachtungen einen engen oder einen losen Zusammenhang zugrunde legt. Bock und Dreesen (2018) halten mit Bezug auf ein gesamtgesellschaftliches Verständnis von Partizipation fest, dass von einem engen Zusammenhang von Sprachgebrauch und Partizipation auszugehen ist: «Partizipation ist soziales, kommunikatives Handeln. Ein großer Teil dieses Handelns setzt Sprachfähigkeit und Sprachkompetenzen nicht nur voraus, er funktioniert v. a. mittels Sprachgebrauch» (Bock/Dreesen 2018, 7). Auch für die verschiedenen Dimensionen schulischer Partizipation stellt sich die Frage, wie Sprachgebrauch und Partizipation aufeinander bezogen sind und was aus diesem Verhältnis aus didaktischer Perspektive folgt. Denn wenn es zutrifft, dass das Mitwirken im Schulfeld eher «eine ‹Belohnung› für bereits vorhandene soziale und kommunikative Kompetenzen darstellt und weniger dem Erwerb solcher Fähigkeiten dienen soll», dann erstaunt es wenig, wenn vor allem jene Kinder im Vorteil sind, «die auch zu Hause die Chance haben, explizit mitzuwirken und über ihr Mitwirken zu verhandeln» (Rieker et al. 2015, 6). Um die hier zur Diskussion gestellte – nicht nur theoretisch bedeutsame, sondern auch didaktisch folgenreiche – Frage nach dem Zusammenhang von Sprachgebrauch und Partizipation zu vertiefen, gilt es zunächst auf unterschiedliche Partizipationsvorstellungen aufmerksam zu machen.
In der Literatur, die sich mit Fragen der Partizipation im Schulfeld befasst, kann – abgesehen von den bereits erwähnten normativen und deskriptiven Verwendungsweisen – auch zwischen einem spezifischen und einem holistischen Konzept von Partizipation unterschieden werden. Im Rahmen eines spezifischen Verständnisses lässt sich Partizipation als «das Ausmaß von Einflussmöglichkeiten auf Entscheidungsprozesse mittels Interaktionsprozessen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, Lehrpersonen und ihren Schülerinnen und Schülern, Kindern und Eltern» bestimmen (Reichenbach 2006, 55). Einem ähnlich engen Verständnis ist Moser (2010) verpflichtet, die Partizipation als «die bewusste Mitwirkung an Entscheidungen, die das eigene Leben und das der Gemeinschaft betreffen» definiert (Moser 2010, 71). In beiden Begriffsbestimmungen wird der Fokus auf die Teilhabe an Entscheidungsprozessen gelegt, was für das spezifische Partizipationsverständnis charakteristisch ist (vgl. auch Lötscher/Sperisen 2016); außerdem wird explizit die Bedeutung von Interaktionsprozessen hervorgehoben.2 Während Moser (2010) die Bewusstheit der Beteiligung an Entscheidungsprozessen besonders hervorhebt, wird in anderen Begriffsbestimmungen die Bedeutung der Freiwilligkeit betont (vgl. Bock/Dreesen 2018, 5), was in Mosers Definition wohl in der Bewusstheit mitenthalten ist. Gerade auch mit Blick auf den Zusammenhang von Sprachgebrauch und Partizipation scheint es zielführend zu sein, zwischen Bewusstheit und Freiwilligkeit zu unterscheiden, und zwar insofern als eine erzwungene Partizipation (etwa die verpflichtende Teilnahme am Klassenrat) zwar bewusst, aber nicht freiwillig geschieht. Für das Partizipationsverhalten wie auch für die oft zitierte Erfahrung von Selbstwirksamkeit erweist sich dieser Unterschied als äußerst folgenreich (Rieker et al. 2016; Hauser/Haldimann 2018).
Partizipation im Rahmen eines holistischen Konzepts wird demgegenüber als «Teilhabe und Teilnahme an der Gestaltung des Schulalltags» (de Boer 2006, 13) verstanden. In Arbeiten, denen ein holistischer Partizipationsbegriff zugrunde liegt, verweisen synonym verwendete Begriffe wie Mitsprache, Mitbestimmung, Mitwirkung, Teilhabe, Teilnahme, Beteiligung, Mitgestaltung, Mitentscheidung oder Einbeziehung darauf, dass es eine große Bandbreite sozialer Handlungen gibt, unter die der Partizipationsbegriff subsumiert werden kann. Auch Brandt (2015) geht von einem weiten Partizipationsverständnis aus, wenn sie hervorhebt, dass das «Geschehen im Klassenraum […] jedem Einzelnen ein umfangreiches Repertoire zum Teilsein und zur Teilnahme mit sehr unterschiedlichen Verantwortlichkeiten» eröffnet (Brandt 2015, 58; vgl. dazu auch Breidenstein 2006). Wie sich aus der Gegenüberstellung eines spezifischen und eines holistischen Verständnisses ergibt, bildet die Mitwirkung an Entscheidungen für das enge Partizipationsverständnis das Definitionskriterium schlechthin, während die Beteiligung an Entscheidungsprozessen im Rahmen eines holistischen Verständnisses lediglich einen besonderen Typ von Partizipation darstellt. Das Zusammenwirken der beiden erwähnten Dimensionen lässt sich wie folgt darstellen. Auf der einen Seite gibt es ein Kontinuum, das von einem spezifischen zu einem holistischen Partizipationsverständnis reicht und auf der anderen Seite ist ein Kontinuum zwischen deskriptiven und normativen Akzentuierungen feststellbar.
Abbildung 1, Dimensionen des Partizipationsbegriffs
Auch in den Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes sind bezüglich der beiden Dimensionen unterschiedliche Positionierungen beobachtbar, was bei einigen Beiträgen in einem primär deskriptiven Zugang und bei anderen in einer größeren Offenheit gegenüber normativen Vorstellungen zum Ausdruck kommt. Auch was spezifische und holistische Konzeptionen betrifft, finden sich unter den vorliegenden Beiträgen verschiedene Positionen. Die gesprächs- und interaktionslinguistischen Beiträge dieses Sammelbandes sind mehrheitlich deskriptiv orientiert und tendieren zu einem holistischen Partizipationsverständnis, während die erziehungswissenschaftlichen Beiträge weiter auseinander liegen und sich auf mehrere Quadranten verteilen.
Um nicht nur die theoretische Bedeutung, sondern auch die praktische Relevanz der Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Partizipation an einem Beispiel zu illustrieren, sei auf eine empirische Studie verwiesen, die nahe legt, dass bildungssprachliche Kenntnisse in einem engen Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Partizipation (verstanden als Mitsprache an Entscheidungsprozessen) stehen:
«Die interviewten Kinder, die dabei einen von den Erwachsenen eingeführten Wortschatz verwenden, kommen eher aus Elternhäusern mit tendenziell hohem Bildungsstand und erleben die Partizipation als Empowerment. Kinder, die über keine entsprechenden Formulierungen verfügen, stammen eher aus Familien mit einfachen Bildungsabschlüssen. Sie schildern Partizipationsveranstaltungen tendenziell eher als Spielwiese.» (Unicef report 2015, 21)
Aus diesem Befund lässt sich die didaktische (und gesellschaftliche) Notwendigkeit ableiten, die Wirksamkeit von schulischen Partizipationsbestrebungen