Lockvogel. Therese Kersten. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Therese Kersten
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783990012826
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der Traum anderer Leute, schon mit zwanzig felsenfest zu wissen, wo sie mit fünfzig stehen, mein Alptraum ist. Dreißig Jahre derselbe Job. In derselben Firma. Von da weg nur noch fünfzehn bis zur Rente. Dreißig Jahre dieselbe biedere Kleinstadt. Und mit fünfzig? Ende Gelände.

      Oh nein, Therese. Du musst da raus. Bloß, du hast kein Geld. Weil du die 800 monatlich, die du als Polizeischülerin bekommen hast, jetzt eben nicht mehr bekommst. Weil du aufs Wirtschaftsgymnasium gehst und von dem Bisschen abhängst, das man dir gibt. Du musst da raus. Weil du erst 19 bist. Weil du ein Leben vor dir haben willst. Und nicht eines, das in Gedanken bereits hinter dir liegt. Weil das Abenteuer ruft. Weil du das Reisen, das Unterwegssein in den Genen hast. Weil du am Jagdfieber leidest.

      Darum, Therese, tust du es. Darum hast du diesen Schritt gesetzt. Und nicht, weil du ein verkommenes Miststück bist, wie manche leichtfertig meinen könnten.

      Es ist nur wie eBay. Nichts weiter. Nur wie eBay.

      Rein technisch gesehen ist es das allemal. Der Gedanke kühlt mir die Hitze, senkt mir den Puls, hat etwas Beschwichtigendes. Rein technisch gesehen ist es nichts anderes. Wie eBay. Die einen bieten an. Die anderen kaufen.

      Tack. Tack. Tack.

      Ein Frühfrühlingstag im Spätmärz. Die Kräfte der Sonne steigen, sind allgegenwärtig. Die Großwetterlage ist stabil. Und der Mikrokosmos? Weniger. Draußen schlagen die ersten Bäume aus. Auch hier drinnen, in diesem miefigen Raum mit zwei Dutzend Leidensgenossen, ist das Wurzelwerk in Bewegung. Ringsum beginnen sie, nervös auf ihren Stühlen zu wetzen. Auch mich hält es kaum noch. Mittagszeit. Das Hungergefühl ist raumgreifend. Nur nicht in mir. Von Hunger keine Spur. Stattdessen ein Gefühl schaler Übelkeit, das in mir emporsteigt. Denn von jetzt weg gerechnet sind es nur noch exakt vier Stunden, siebenundzwanzig Minuten und … Therese, verdammt. Worauf hast du dich da eingelassen? Wie kannst du dich nur selbst versteigern?

      Worte wehen heran, nur ein paar Schritte entfernt, losgeschickt vom anderen Ende des Raumes, und doch endlos distanziert. Lehrende, bisweilen belehrende Worte. Sie wehen heran. Sie wehen an mir vorüber. Sie verwehen. Unverstanden. Wie nicht gehört. Wie gar nicht erst gesagt. Die Unruhe ist mit allen Sinnen spürbar, hängt greifbar über mir, klebt mir an der Haut.

      Das Einzige, was in mir, an mir noch ruht, ist mein Blick. Er ist stet, liegt in meinem Schoß. Auf dem, was ich fahrig, klammheimlich zwischen den Fingern hin und her gleiten lasse, was mit meinen zappeligen Beinen auf- und abspringt. Ein Gustostückerl technischer Raffinesse dieser Tage ist es, auf das ich hinabstiere. Das Google-Handy. Brandnew. Generation eins. Der Dernier Cri auf dem Handymarkt. Voll internettauglich. Und seit wenigen Wochen mein.

      Echt scharf. Echt sündhaft teuer.

      Ich hebe den Kopf, senke ihn in der Sekunde. Wie besessen starre ich aufs Display. Seit Wochen nun schon. Vormittag um Vormittag. Und mit jedem verstrichenen Tag, mit jeder Veränderung oder Nicht-Veränderung öfter. Länger. Intensiver. Wie besessen tippe ich manchmal auch darauf ein. Wie nun.

      Was dort vorne nach Aufmerksamkeit heischt, ist nicht länger meine Welt. Nicht jetzt wo es darauf ankommt. Wo es ins Finale geht. Wo es gilt. Längst bin ich wieder dort. Anderswo. Weit weg in Gedanken. An einem fernen Ort, der World Wide Web heißt, verkrochen in einem seiner endlos vielen Schlupfwinkel, der über mich urteilt. Dessen User über mich richten. Über meinen Wert. Meinen alles andere als fiktiven Wert.

      Tack. Tack. Tack.

      Wie wird es sein? Wer wird es sein? Wann? Wo? Um welchen Preis? Wem bin ich wie viel wert?

      Ich spüre die sanfte Schweißschicht meiner Hände. Spüre das latente Zittern der vergangenen Tage allmählich zu einem Beben aufwallen. Es ist nicht länger beherrschbar. Spüre das Rauschen in mir. Oh ja, verdammt, und wie es rauscht. Was immer es ist. Ach, das habe ich auch schon? Egal. Denn dieses Es ist mehr als ungewiss. Doch es ist da, rauscht und tobt. Wie spät ist es? 13 Uhr? Dabei ist dieser Augenblick der Entscheidung doch gerade erst ein endlos ferner gewesen.

      Zwei Wochen ist es her. Und jetzt? Wo es doch nur wie bei eBay ist?

      Jetzt.

      Jetzt heißt dieser Augenblick, der mir Gewissheit verschaffte über einen bizarren Wert, der mich auf einmal ausmachen soll. Und, ja, auf gewisse Weise tatsächlich ausmacht. Wenigstens in anderer Leute Augen. Doch auf seltsame Art, wie mir bewusst wird, auch in meinen eigenen. Jetzt wird mir als Zahl erscheinen. Ein nacktes Zifferngebilde. Nichts weiter. Und doch wird mich diese Zahl definieren. In wenigen Stunden schon. Wie viele?

      Oh mein Gott.

      Vier Stunden, dreiundzwan… Es ist nur eine Zahl, Therese. Eine schlichte Zahl, die am Ende der Zeit auf einem Bildschirm aufblinken wird. Sonst nichts. Wirklich, sonst nichts? Wie viel würde es am Ende sein? An diesem so drängend nahen Ende?

      800 Euro? 1000? 1500?

      Beruhige dich, Therese. Zwei Wochen, denke ich, stöhne halblaut auf und ziehe ein sanftes Nicken auf mich. Nachgereicht die bestätigenden Blicke meiner Sitznachbarin. Was sie nicht weiß: Ihre Gründe zu stöhnen sind allein der an Mattigkeit und schalem Beigeschmack kaum zu übertrumpfenden Szenerie dort vorne geschuldet und grundlegend andere. Vor zwei Wochen, denke ich. Meine Güte. In zwei Wochen erfinden Menschen meines Alters die Welt tausendmal neu.

      Tack. Tack. Tack.

      Unausgesetzt liegt der Blick auf meinem Schoß. Dort, wo seit ein paar Wochen über mich und meinen reellen Wert befunden wird. In unterschiedlichem Takt. Mal tagelang nichts. Dann wieder geht es hin und her. Wie Pingpong. 300. 400. 600. Abermals 50 oben drauf. Noch vier Stunden, dreiundzwanzig Minuten und zwölf Sekunden.

      Zwei Wochen.

      Eine völlig ungewisse Zukunft für eine junge Frau mit Vergangenheit. Ja, sage ich mir. Das bist du. Ein Mädchen, eine junge Frau mit Vergangenheit. Jetzt schon, gerade mal 19. Doch bestimmt keine von denen. Nein, Therese, das bist du nicht. Du bist kein Miststück. Welcher Teufel, verdammt noch mal, hat dich da geritten?

      Du bist keine von denen.

      Dennoch eine junge Frau, ein Mädchen auf Abwegen. Abgründe würden sie sagen. Sie. Die Kollegen ringsum? Die nicht zwingend. Die Kolleginnen allemal. Der Schlampenfaktor unter uns Frauen. Und wenn es breiter die Runde machte? Wenn es von Haus zu Haus ginge? Hier, in dieser kreuzbiederen Kleinstadt Schönebeck? Du könntest dich nicht mehr blicken lassen.

      Scheiß drauf.

      Und Mama? Wäre sie entsetzt? Mama vielleicht. Papa ganz bestimmt. Und Anna? Ja, auch sie. Anna, die beste Freundin, auf den Tag genau zwei Jahre jünger. Ich sehe ihr leicht pausbackiges Gesicht. Sehe sie nach Luft schnappen, vor blankem Entsetzen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Ich sehe mich sie anlügen. Es würde unausweichlich sein. Und doch, sage ich mir, habe ich keine andere Wahl. Jetzt nicht mehr.

      Nein?

      Natürlich hast du! Immer noch kannst du es canceln. Einfach »Stopp« sagen. Als wäre nichts gewesen. Bestimmt würdest du Storno zahlen müssen. Na und? Würdest du überhaupt? Wie war das gleich nochmal mit den AGB? Außer Spesen nichts … Du kannst es immer noch stoppen, Therese. Noch ist Zeit. Vier Stunden und wie viel …? Vier Stunden und noch irgendwas. Vier Stunden, Therese, sind nicht bloß eine Last. Nein. Sie sind auch eine Chance.

      Ich blicke kurz hoch wie zur Bestätigung, dass der Typ dort vorne nicht Wichtiges von sich gibt. Nein. Keine Gefahr. Er ist weiterhin gefangen in seinem eigenen Universum, das nicht das meine ist. Der Blick wieder hinab. Vertraute Bilder, Icons, Einträge funkeln empor. Der knallorange Balken zuoberst. Startseite. Verkaufen. Login. Registrieren. Hilfe. Impressum. Presse. Die diversen Kategorien. Räume. Reisen. Bilder. Kunst gibt es auch. Kunst. Zwischendrin Einträge, die mit dem Kamasutra kokettieren. Dann wieder Werbung. Statistiken.

      Alles wie bei eBay.

      Nur eben um den Tick krasser. Und anstelle Biedermann und Söhne, anstelle von Haus und Garten, Technik, Musik, Games, Filme, und natürlich – für die Männer – Auto und Motorrad, anstelle von alledem das Kontrastprogramm. Für ihn.

      Aber auch für sie.

      Ich