Lockvogel. Therese Kersten. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Therese Kersten
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783990012826
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das ist wirklich schade. So … so interessant, wie du bist.«

      Julia ließ es sich nicht anmerken, doch die Blitzartigkeit, mit der Tobias alias Tobi sich bereiterklärte, sie hemmungslos anzubraten, während seine Freundin gerade mal ein paar Schritte entfernt war, machte sie doch einigermaßen sprachlos. Noch dazu, wo sie (wer auch immer sie sein mochte) bestimmt nicht wusste, dass er …

      »Tja«, sagte Julia mit verschmitztem Lächeln. »Da bin ich wohl zu spät gekommen.«

      »Es ist niemals zu spät.«

      »Ach nein? Sieht mir aber nicht danach aus.«

      Tobi schnitt eine diffuse Grimasse.

      »Um wie viel bin ich eigentlich zu spät?«, setzte sie nach.

      Er taxierte sie aus zugekniffenen Augen. »Wenn du es genau wissen willst, um zwei Jahre.«

      Tobis Flamme tänzelte zurück an den Tisch und warf sich ihrem Geliebten augenblicklich und auf eine einnehmende, besitzergreifende Art an den Hals, als stünde Ewiges Glück darauf, eingraviert in fetten, bunten Tattoolettern. Während die Unbekannte sich abermals an Tobi zu schaffen machte, löste Julia sich von ihrem Sitz, zwinkerte ihm unbemerkt zu und tanzte wenig später dicht an dicht mit Sarah, die an ihrem Aufriss nur bescheidenen Gefallen fand, was sie durch dezente Zurückhaltung demonstrierte. Mit wenigen Sätzen hatte sie Sarah darüber ins Bild gesetzt, was sie in aller Kürze in Erfahrung gebracht hatte.

      »Zwei Jahre schon?«, rief die. Eine Mischung aus Unglauben und Abscheu lag in Sarahs Stimme. »Dieses Dreckschwein!«

      Julia nickte. Mission Ärsche hatte Sarah ihr Auftreten heute Abend im Vorfeld genannt. Und sie konnte nicht umhin, ihr uneingeschränkt Recht zu geben. Schlagartig kippte nun auch Julias Stimmung. Es war geworden, was sie vermutet hatte. Und wäre sie privat, rein privat, hier gewesen, mein Gott, wie hätte sie diesem Dreckskerl die Leviten gelesen. Aber so, nein. Das durfte sie nicht. Das war nicht ihre Aufgabe.

      Julia hatte mehr als genug gesehen. Sie gab Sarah ein Zeichen. Kurz danach standen sie an der Bar, nahmen demonstrative Distanz ein. Zu Tobi. Zu seiner Flamme. Überhaupt zur ganzen Clique. Zum einen, weil alle beide von Grund auf angeekelt waren, insbesondere von diesem Saukerl mit seiner Andrea, wie sie mittlerweile wussten. Zum anderen aber auch, weil sie sehen wollten, ob er nicht doch bereit wäre, noch einen Schritt weiterzugehen. Darum waren sie letztlich hier. Obendrein hatten sie beschlossen, ein wenig zu feiern. Schließlich waren sie blutjung. Und die Nacht war es auch.

      »Rufst du sie an?«, fragte Sarah, während sie an ihrem frisch bestellten Drink nippte.

      »Ja«, gab Julia zurück, »aber nicht heute. Würdest du es jetzt wissen wollen? Mitten in der Nacht?«

      »Nicht wegen diesem Arsch.« Sarah schüttelte den Kopf, und Julia lachte spontan auf, mehr aus Bitterkeit denn Heiterkeit, doch ihr Lachen ging als ein vermeintlich fröhliches auf die Reise. Und es kam geradewegs dort an, wo es gar nicht ankommen sollte. Eben noch, keine Minute war’s her, hatte Julia erwogen, ob sie nicht doch weitermachen sollten. Ob sie nicht doch noch einen Angriff starten sollte. Eines ultimativen Beweises wegen. Wie auch immer alle beide aussehen mochten. Der Angriff. Und der Beweis.

      Und genau da entfuhr ihr dieser Lacher, der auf Reisen ging. Und genau da trat Tobi ihn selbst an: den ultimativen Beweis. Aus gänzlich freien Stücken und im unerschütterlichen Glauben an die Unwiderstehlichkeit seiner Person, an die absolute Kraft seiner Männlichkeit. Eng umschlungen mit seiner Flamme auf der Tanzfläche, mit beiden Händen ihre Pobacken Zentimeter um Zentimeter und auf eine Weise abtastend, als bestünden die Fingerkuppen aus Funksensoren, die ihre Koordinaten direkt in die Datenbank eines Skulpteurs weitergaben, begannen seine Augen, Julia an der Bar auszuziehen. Sie konnte spüren, wie Schicht um Schicht von ihr abfiel. Und dann, als sie ihm wohl bereits splitternackt vor Augen stand, löste er sich mit einem Ruck von seiner Angebeteten, steuerte schnurstracks auf sie zu.

      »Here comes Mister Dreckskerl«, knurrte Julia Sarah voller Verachtung aus geschlossenen Zähnen zu, lächelte dabei aber unverfänglich in Tobis Richtung. Blitzartig war er bei ihnen, zwängte sich zwischen die beiden, presste seinen Körper an Julias und orderte zwei Drinks. Währenddessen schob er ihr eine Visitenkarte zu. Unbemerkt, ohne einen Anflug von Nervosität und mit einer schlafwandlerischen Sicherheit, die auf beträchtliche Routine in solchen Dingen verwies. So schnell er an sie herangerückt war, so schnell war Tobi, zwei volle Gläser in Händen, auch schon wieder weg, ehe sein Vögelchen, das zwischenzeitlich angeflogen kam, sie erreicht hatte.

      »Wir gehen«, sagte Julia. Ihr war nicht länger nach Feiern zumute. Feiern? Was auch? Dass sie ein Ekel der Sonderklasse getroffen hatten? Einen Businessman aus dem Bilderbuch, der seit fünf Jahren in festen Händen in Graz war und hier, in Wien, ein nahezu perfektes Doppelleben führte? Aber eben doch nur nahezu perfekt. Weil er in der Unfehlbarkeit, die er in seinem Auftreten für sich reklamierte, doch um einen Tick zu blöd war. Zu hormongeladen. Und darum fehlerhaft agierte. Weil er angefangen hatte, seine Langzeitpartnerin ein ums andere Mal zu versetzen. Weil er Termine, Meetings, Dienstreisen vorschützte, die es natürlich nicht gab. Weil die Ausreden zwar immer schlagartig erfolgten, zugleich aber auch immer schaler, immer billiger, immer unglaubwürdiger ausfielen. Weil er Nachrichten mit schwerem Erklärungsbedarf im Handy hatte stehen lassen. Weil er Frauen unter Männernamen im Kontaktspeicher führte.

      Zwei Minuten später waren sie draußen bei der Tür und fassten erstmal tief Atem.

      »Willst du sie doch noch anrufen?«, fragte Sarah, da sie sah, wie Julia an ihrem Handy nestelte.

      Julia schüttelte den Kopf. »Ich checke bloß die Bilder von drinnen. Das gehört zum Service.«

      Nein. Kein Anruf. Nicht mitten in der Nacht. Was sie gesehen hatte, würde bis morgen warten können. Dieses Paket aus Lügen und Testosteron und Selbstüberhebung war es nicht wert, anderen Menschen auch nur eine Sekunde kostbaren Schlafs zu rauben. Das kam ohnedies bald genug. Darum würde sie bis zum nächsten Morgen warten.

      Der Gedanke daran schnürte ihr ohnedies die Kehle eng. Jetzt schon, beim allerersten Bissen vom Kebab, den sie sich gleich beim Aufgang des Clubs zur Belohnung gönnten. Das Telefonat. Gleich morgen früh. Schließlich war morgen früh ziemlich bald. Julia gedachte der Fassungslosigkeit, die ihr entgegenschlagen würde. An das Schweigen, das sie nur zu gut kannte. An das Nach-Luft-Ringen. An ein Meer von Tränen, das im Gefolge womöglich durch die Leitung schwappen würde. An die Frage der Fragen, die immer wieder kam.

      Warum ich?

      Und sie dachte an die systematische Schmierenkomödie, die hinter alledem stand. An die viele, durchaus knochenharte Arbeit des Verschleierns. Das Löschen von Nachrichten. Mails. Chatverläufen. Das Verbergen von unerklärlichen Unkosten. Kreditkartenabrechnungen. Essensbelege. Hotelrechnungen. Kilometerstände auf Tachos. Was immer. Das Umschiffen von Orten, wo Bekannte, Freunde des ersten Lebens anzutreffen sein könnten. Das Erklären jäh geänderter Lebensgewohnheiten. Vom neuen Körperbewusstsein über den neuen Kleidungsstil bis zu sprachlichen Gepflogenheiten, weil Affären, Parallelbeziehungen meist auch ihre eigenen Codes generierten, über die man sich verständigte. Die Menschen zusammenschweißten und Welten schufen, in die andere keinen Zutritt bekamen.

      All das bedeutete einen enormen Energieaufwand, der anderswohin floss. Nur nicht in die eigene Beziehung. Oder wenigstens in die Kraft zum Mut, endlich Farbe zu bekennen, endlich ehrlich zu sein.

      Daran musste Julia vor so einem Telefonat denken. Und wie es wohl Polizisten ergehen musste, die Hiobsbotschaften zu den Menschen trugen. Nichts anderes war im Prinzip, was sie tat. Auch sie legte fremde Welten in Trümmer. Nicht immer. Aber oft genug. Der entscheidende Unterschied war bloß, dass sie nicht die Gewissheit vom Tod eines Menschen brachte, sondern schlimmstenfalls die Gewissheit vom Tod einer Beziehung, die ohnedies nicht erhaltenswert war. Den Einsturz eines Gebäudes mit durch und durch morschen Grundfesten. Wie auch, dass sie nicht aus eigenem Antrieb Schicksalsengel spielte, sondern letztlich immer darum gebeten wurde. Weil Menschen nach Gewissheiten suchten, die sie auf andere Weise nicht erhielten. Weil Menschen die Courage aufbrachten wissen zu wollen, woran sie waren. Oder vielleicht auch, weil sie inbrünstig hofften, sich zu irren. Oder die