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Am Folgemorgen, kurz nach neun, rief Julia Frau B. an. Ihre Auftraggeberin aus Graz. Sie hatte wissen wollen, ob ihr Lebensgefährte allzu leicht für einen Flirt und ein bisschen mehr zu haben wäre. Ob er sich (was sie ohnedies im Grunde ihres Herzens vermutete) zu einem Seitensprung entschließen, schlimmstenfalls sogar eine Affäre anfangen würde.
Frau B. war auf der Suche nach Gewissheit. Und nach Erfüllung einer schon angeschlagenen Hoffnung: dass nämlich sie die Einzige wäre, die über alles Geliebte. Darum schrieb sie das Mail an Die Treuetester. Nach einer (wenngleich wackeligen) Sicherheit hat sie gesucht. Bekommen hat sie das seit Jahren praktizierte Doppelleben eines skrupellos notorischen Betrügers. Natürlich zog ihr das fürs Erste die Schuhe aus. Dann aber war Frau B. dankbar, ist es heute noch. Weil man ihr die Augen geöffnet hat.
Man. Das sind in diesem Fall Julia und Sarah. Im Gespann. Manches lässt sich eben nur zu zweien wirklich effektiv bewerkstelligen.
Sarah, die Gelegenheits-Detektivin, die es liebt, Sherlock Holmes im Kleinen zu spielen, die ein Faible fürs Hobby-Psychologisieren hat, wie sie es nennt, es insbesondere aber darum tut: Weil sie Menschen wie Tobi aufs Blut nicht ausstehen kann, mehr noch, weil sie Menschen wie Frau B. vor Menschen wie Tobi um jeden Preis zu schützen gedenkt. Da sind sie schon zwei. Sarah und Julia.
Mission Ärsche.
Und Julia? Die mit dem knallengen, schwarzen Overall und den grell aufgeschminkten Lippen?
Ja, Julia, das bin ich.
Und Die Treuetester?
Das bin auch ich. Meine Agentur, um präzise zu sein. Mit einer Heerschar von Testerinnen und Testern an meiner Seite. An die dreihundert sind es inzwischen, Frauen und Männer jeden Alters, jeden Aussehens, der Querschnitt eines Blicks auf eine belebte Straße. Erlauben Sie, dass ich mich nun selbst vorstelle:
Mein Name ist Kersten.
Therese Kersten.
Ja, auch ich mag Martini. Nein, es spielt keine Rolle, ob geschüttelt oder gerührt. Ja, auch ich neige bisweilen dazu, mich in seltsamen Situationen wiederzufinden. Nein, nicht aus Prinzip seltsam. Ja, auch ich neige zu etwas bizarren Vorgehensweisen. Nein, keinesfalls verbotene. Ja, auf gewisse Weise bin auch ich auf Mission. Nein, ich trage keine scharf geladene … ich bin die Waffe. Ja, ich könnte es gut verstehen, würden Sie darauf verfallen, mich allerspätestens am Ende dieses Buches süffisant Agentin 006 zu nennen. Nein, freuen Sie sich bloß nicht zu früh über Ihr Späßchen.
Doppelnull Sex.
Seien Sie stattdessen versichert: In den allermeisten Fällen, die Ihnen auf den folgenden mehr als zweihundert Seiten begegnen, dreht es sich, wenn schon, um das Duell Sex gegen Doppelnull. Einen anderen Schluss lassen die ernüchternden, erschreckenden Einblicke in Moral und Werte, Raffinesse und Durchtriebenheit, Risikofreude und Selbsteinschätzung, kurzum: in die Psyche mancher Zeitgenossen (und -innen) kaum zu.
Ja, man kann mich buchen. www.die-treuetester.eu. Sie können es in Ihrem eigenen Interesse tun. Andere Leute in deren, was dem Ihren womöglich grundlegend widerstrebt. In diesem Fall bin ich nicht länger ein Traum, sondern der Alp. Seien Sie also auf der Hut, ehe Sie auch nur erwägen, den Partner, die Partnerin … andererseits … sind wir Menschen denn geschaffen für absolute, ewige Treue?
Mein Name ist Kersten.
Therese Kersten.
Alter: 27 Jahre.
Beruf: Lockvogel.
PS.: Frau B. wollte es ganz genau wissen. Genauer als genau. Also gab sie einen zweiten Test in Auftrag. Ob (da immer noch ihr) Tobi tatsächlich bereit wäre, sich mit mir zu treffen. Privat. Für … na, Sie wissen schon, Frau Kersten. Für eindeutige Dinge eben. Und ob er dabei zugleich seine Freundin eingestünde.
Schriftlich.
Zehn Minuten nach meinem SMS funkte Tobi zurück. Ja, natürlich wolle er mich (treffen). Nein, natürlich sei das mit der Freundin kein Problem. Also vereinbarten wir ein Treffen. In Wien.
Wer an meiner statt in das Hotel in der City kam, war Frau B. Eigens aus Graz angereist. Das, verriet sie im Vorfeld, sei ihr den letztmaligen Aufwand wert. Ein letzter Aufwand. Für ihn. Das Letzte.
PPS: Erinnern Sie sich noch an den Wortlaut des zweiten, eingangs erwähnten Zitats?
Treu bis in den Tod sind nur die Dummköpfe. Die Treue hat ihre Grenze im Verstand.
Dieser Satz geht auf einen gewissen Talleyrand zurück. Charles Maurice de Talleyrand-Périgord. Erst Bischof von Autun. Dann Außenminister Napoleons. Dann Vertreter auf dem Wiener Kongress von 1814.
Ist demnach schon ein Weilchen von uns gegangen, der gute, alte Talleyrand. Und ohnedies ein Mann, den das historische Gedächtnis Frankreichs weitgehend von der Festplatte getilgt hat. Insbesondere, weil er im Ruf stand und steht, ein recht spezielles Verhältnis zur Loyalität und Treue (wenngleich im politischen Sinne) gehabt zu haben. Ein williger Diener vieler Herren. Ein Meister von Beweglichkeit und Anpassung, Lüge, Verrat und Intrige. Manche nennen es schlichtweg: Opportunismus.
Talleyrand ist vergessen. Ein vom Sturm der Geschichte fortgeblasenes Staubkorn. Durchaus Bestand hat jedoch die Kernaussage zu ihm, weil sie ins Heute reicht und für zahlreiche der Spezialisten, die ich Ihnen nun mit all ihren Besonderheiten (und dabei wieder Alltäglichkeiten) näherbringen möchte, nach wie vor Gültigkeit hat. Ein Zitat, das Bonaparte zugeschrieben wird und an aktuellem Bezug und Treffsicherheit kaum überbietbar scheint.
Wie also sagte Napoleon Bonaparte einst über Talleyrand?
Ein Haufen Scheiße in Seidenstrümpfen.
WARE LIEBE
Was lässt einen Menschen seine Haut zu Markte tragen? Einen so jungen Menschen obendrein? Ein Mädchen von gerade mal 19 Jahren? Aus gewöhnlichen Verhältnissen. Durchschnitt. Weder ganz oben, noch ganz unten.
Was ist das überhaupt? Ganz oben? Ganz unten?
Die Eltern jedenfalls nicht verheiratet. Und auch nicht länger zusammen. Seit Gedenken. Genau genommen seit das Mädchen fünf ist. Seit ich fünf bin. Der Patchwork-Klassiker: Aufwachsen bei der Mutter. Mit sechzehn die erste Wohnung. Nun ja, etwas früh vielleicht in mancher Leute Augen. Mit 19 zurück in den elterlichen Schoß. Gewissermaßen. Diesmal ein Leben beim Vater. Im selben Haus mit seiner neuen Familie und den Großeltern.
Ein Zuhause, das mir nie wirklich eines gewesen ist. Dennoch alles im Rahmen. Keine bewegenden Probleme, die ein Mädchen, eine junge Frau von 19 Jahren aus der Spur werfen, in solche Bahnen lenken, sie diesen Schritt setzen lassen würden.
Es ist nur wie eBay. Nichts weiter.
Nur wie eBay.
Aber ja, sage ich mir, während ich wie besessen auf meinen Schoß starre. Aber ja. Menschen stellen allerlei Verrücktheiten an, wenn der Tag lang und die Mischung aus Phantasie und Durchsetzungsvermögen begrenzt ist. Sie machen sich abhängig. Von anderen Menschen. Von überzogenen Vorstellungen. Von Wünschen, deren Preis zu hoch ist. Sie arbeiten viel zu viel für viel zu wenig Geld. Sie tun es für die grundfalschen Leute. Sie begeben sich in prekäre Umstände.
Wir schreiben das Jahr 2009. Ein Frühfrühlingstag.
Prekäre Umstände, Therese? Aber es ist doch bloß … es ist nur wie eBay. Nichts weiter. Nur wie eBay.
Die Wiederholung, weiß ich in der Theorie, macht das Falsche nicht richtiger. Dennoch sage ich es mir wieder und wieder vor. Gebetsmühlenartig. Das beruhigt. An der Oberfläche. Darunter brodelt es. Wofür immer es steht. Andere tun es auch. Kein Abschaum. Menschen wie du und ich. Aus oftmals behüteteren Häusern. Haben die auch alle denselben Schaden, den mir manche nachsagen? Weil man das nicht macht, unter normalen Umständen? Dabei