Die flügge gewordene Organisation machte einige erste Versuche, sich selbst zu definieren. 1962 wurde formal festgestellt:
Die Humanistische Psychologie beschäftigt sich vor allem mit jenen menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten, die kaum einen oder keinen systematischen Ort haben, weder in der positivistischen oder behavioristischen Theorie, noch in der klassischen psychoanalytischen Theorie: zum Beispiel Liebe, Kreativität, Selbst, Wachstum, Organismus, Befriedigung grundlegender Bedürfnisse, Selbstaktualisierung, höhere Werte, Natürlichkeit, Wärme, Ich-Transzendenz, Objektivität, Autonomie, Verantwortlichkeit, Bedeutung, Fairness, transzendentale Erfahrung, psychologische Gesundheit und verwandte Konzepte.18
Im Jahr 1963 schlug der Präsident der Vereinigung, James Bugental, fünf grundlegende Postulate vor:
1. Der Mensch ist als Mensch mehr als die Summe seiner Teile (das heißt, man kann den Menschen nicht aufgrund wissenschaftlicher Studien von Teilfunktionen verstehen.)
2. Der Mensch hat sein Dasein in einem menschlichen Kontext (das heißt, man kann den Menschen nicht aufgrund von Teilfunktionen verstehen, die die zwischenmenschliche Erfahrung ignorieren.)
3. Der Mensch ist bewusst (und kann nicht verstanden werden durch eine Psychologie, die die kontinuierliche vielschichtige Selbstbewusstheit des Menschen nicht anerkennt.)
4. Der Mensch hat Wahlmöglichkeiten (der Mensch ist kein Zuschauer seiner Existenz; er schafft seine eigene Erfahrung.)
5. Der Mensch ist intentional19 (der Mensch weist auf die Zukunft; er hat Zweck, Werte und Sinn.)20
Vieles in diesen frühen Manifesten – Anti-Determinismus, die Betonung der Freiheit, Wahl, Zweck, Werte, Verantwortung, die Verpflichtung gegenüber der Wertschätzung der einzigartigen Erfahrungswelt jedes Individuums – ist von großer Bedeutung für den existenziellen Bezugsrahmen, den ich in diesem Buch darstelle. Das amerikanische Gebiet Humanistischer Psychologie ist jedoch keinesfalls synonym mit der existenzialistischen Tradition auf dem Kontinent; es gibt einen wesentlichen Unterschied in der Akzentsetzung. Die existenzialistische Tradition in Europa hat immer die menschliche Begrenztheit und die tragischen Dimensionen der Existenz betont. Vielleicht ist das so, weil die Europäer vertrauter sind mit geografischen und ethnischen Einschränkungen, mit Krieg, Tod und einer ungewissen Existenz. Die Vereinigten Staaten (und die Humanistische Psychologie, die sie hervorbrachten) badeten in einem Zeitgeist [im Original dt.] des Expansionsdrangs, des Optimismus, der grenzenlosen Horizonte und des Pragmatismus. Folglich ist die importierte Form des existenzialistischen Gedankenguts systematisch geändert worden. Jeder der grundlegenden Glaubenssätze hat einen ausdrücklichen Akzent der Neuen Welt. Der europäische Fokus liegt auf den Grenzen und darauf, dass man sich der Angst vor Unsicherheit und Nicht-Sein stellen und diese annehmen muss. Die humanistischen Psychologen andererseits sprechen weniger von Grenzen und Kontingenz als von der Entwicklung des Potenzials, weniger von Akzeptanz als von Bewusstheit, weniger von Angst als von Gipfelerlebnissen und ozeanischem Einheitsgefühl, weniger von dem Sinn des Lebens als von Selbstverwirklichung, weniger vom Fremdsein und der grundlegenden Isolierung als von Ich-Du und Begegnung.
In den Sechziger-Jahren verschlang die Gegenkultur mit ihren sie begleitenden sozialen Phänomenen – wie die Bewegung der Redefreiheit, die Blumenkinder, die Drogenkultur, die Human Potential Bewegung, die sexuelle Revolution – die humanistische psychologische Bewegung. Bald entwickelten die Kongresse der Vereinigung Merkmale eines Karnevals. Das große Zelt der Humanistischen Psychologie war, wenn schon nichts anderes, dann großzügig und vereinigte bald eine verwirrende Vielzahl von Schulen unter seinem Dach, die kaum in der Lage waren, miteinander zu reden, nicht einmal in einem existenzialistischen Esperanto. Gestalttherapie, Transpersonale Therapie, Encountergruppen, Holistische Medizin, Psychosynthese, Sufismus und viele, viele andere betraten die Szene. Die neuen Trends haben Wertorientierungen mit bedeutsamen Implikationen für die Psychotherapie. Betont wird der Hedonismus (»wenn es sich gut anfühlt, tu es«), der Anti-Intellektualismus (der jeden kognitiven Zugang als »mindfucking« betrachtet), individuelles Erfülltsein (»mach’ deine eigene Sache«, »Gipfelerlebnisse«) und Selbstverwirklichung (ein Glaube an die Vervollkommnung des Menschen ist bei den meisten humanistischen Psychologen verbreitet, mit der großen Ausnahme von Rollo May, der viel stärker in der existenzialistisch-philosophischen Tradition verwurzelt ist).
Diese um sich greifenden Trends, besonders die anti-intellektuellen, führten bald zu einer Scheidung der Humanistischen Psychologie von der akademischen Gemeinschaft. Humanistische Psychologen in etablierten akademischen Positionen fühlten sich unwohl in der Gemeinschaft, in der sie sich aufhielten, und lösten sich allmählich von ihr. Fritz Perls, der weit davon entfernt war, ein Befürworter von Disziplin zu sein, drückte seine große Besorgnis aus über die »Abgefahrenen«, diejenigen des »Alles ist möglich« sowie über die »Schnellküche der Sinnesbewusstheit«21, und schließlich waren die drei Persönlichkeiten, die die Humanistische Psychologie anfänglich intellektuell geführt hatten – May, Rogers und Maslow – sehr ambivalent in ihrer Haltung gegenüber diesen irrationalen Trends und verringerten allmählich ihre aktive Unterstützung.
Die Existenzielle Psychotherapie hat daher eine etwas verschwommene Beziehung zur Humanistischen Psychologie. Sie teilen jedoch viele grundlegende Prämissen, und viele humanistische Psychologen haben eine existenzielle Orientierung. Von ihnen werden Maslow, Perls, Bugental, Bühler und vor allem Rollo May häufig in diesem Text zitiert werden.
Humanistische Psychoanalytiker: Freunde der Familie
Es bleibt noch eine Gruppe von Verwandten, auf die ich mich als »Humanistische Psychoanalytiker« beziehen werde, und die sich frühzeitig von den Ästen des Stammbaumes, den ich beschrieben habe, abspalteten. Obwohl sie sich niemals als Clan betrachteten, haben sie in ihren Werken viele Parallelen. Die bedeutenden Stimmen in dieser Gruppe – Otto Rank, Karen Horney, Erich Fromm und Hellmuth Kaiser – wurden alle in europäischer Freudscher psychoanalytischer Tradition ausgebildet, aber emigrierten nach Amerika; und sie alle, mit Ausnahme von Rank, leisteten ihre größeren Beiträge, während sie in die amerikanische intellektuelle Gemeinschaft eintauchten. Jeder von ihnen widersetzte sich dem Freudschen Modell von Instinktantrieben für das menschliche Verhalten, und jeder schlug wichtige Korrekturen vor. Das Werk von jedem von ihnen hat eine große Reichweite, und jeder wandte seine Aufmerksamkeit eine Zeit lang irgendeinem Aspekt existenzieller Therapie zu. Rank, dessen Beiträge durch seinen modernen Interpreten Ernest Becker in brillanter Weise bereichert wurden, betonte die Bedeutung des Willens und der Todesangst; Horney betonte die entscheidende Rolle der Zukunft als beeinflussende Kraft für das Verhalten (das Individuum wird durch Zweck, Ideale und Ziele motiviert und nicht so sehr durch vergangene Ereignisse geformt und determiniert); Fromm hat die Rolle der und die Furcht vor der Freiheit des Verhaltens in meisterhafter Weise beleuchtet, während Kaiser sich mit der Verantwortung und der Isolation beschäftigte.
Zusätzlich zu diesen wesentlichen Zweigen der Philosophie, der Humanistischen Psychologie und der humanistisch orientierten Psychoanalyse, enthält der Stammbaum der existenziellen Therapie noch einen anderen bedeutsamen Zweig, der von den großen Schriftstellern getragen wird, die nicht weniger umfassend als ihre professionellen Brüder existenzielle Fragen erforschten und erklärten. Daher werden