Zur Rolle von Polaritäten in der Holarchie der Entwicklung und im Quadrantenmodell
Die Holarchie der Entwicklung, auf die ich mich hier beziehe, ist ein Ebenen- oder Stufenmodell, das holarchisch aufgebaut ist und in das eine Vielzahl von östlichen und westlichen Forschungen und Traditionen eingeflossen sind. Wilber hat eine beeindruckende Arbeit geleistet, indem er in vielen Veröffentlichungen seine Forschungsergebnisse dazu dargestellt hat (vgl. 1996, 2006). Die Holarchie der Entwicklung ist ebenso wie das Quadrantenmodell ein komplexes Konstrukt mit vielen Implikationen, die hier nicht im Einzelnen hergeleitet oder dargestellt, ja nicht einmal erwähnt werden können, wenn ich noch zum eigentlichen Gegenstand dieses Beitrags kommen möchte4 – der Idee von Polaritäten!
Das Phänomen Polarität ist für die Holarchie der Entwicklung und auch für das Quadrantenmodell (dessen Perspektiven ja nichts anderes sind als Pole von zwei grundlegenden Polaritäten) ein wesentliches Charakteristikum. So ist beispielsweise bereits der Grundbaustein der Entwicklungsholarchie, das Holon, mit seiner ›Doppel-Identität‹ vom Ganzen/Teil-eines-größeren-Ganzen von polarer Struktur. Aber auch in einem inhaltlichen Charakteristikum weist die Entwicklungsholarchie (sei es bei Wilber oder auch beispielsweise bei Kegan oder nicht zuletzt bei Beck & Cowan, die von einer Spirale sprechen) eine sehr interessante Polarität auf, auf die ich hier näher eingehen möchte:
Ich spreche von der Ur-Polarität von Eigenständigkeit und Zugehörigkeit, wie sie sich durch die Kulturgeschichte der Menschheit zieht und in vielen Arbeiten so oder in ähnlichen Begriffen erwähnt wird. Sie trägt dem Phänomen Rechnung, dass Menschen ebenso das Bedürfnis nach Zugehörigkeit wie nach Eigenständigkeit haben – etwas, was wie ein Widerspruch anmutet, jedoch bei genauerer Betrachtung eine Polarität darstellt!
Bereits Robert Kegan wies in seinem als Spirale dargestellten Entwicklungsmodell (1986) explizit darauf hin, dass diese Polarität von Zugehörigkeit und Eigenständigkeit eine wesentliche Komponente der Entwicklung darstellt. Er stellt fest, dass diese beiden Bedürfnisse miteinander in Konflikt liegen, dass eine Spannung zwischen beiden besteht (ebd. 150). Auf einer jeden Entwicklungsstufe, so Kegan, wird dieser Konflikt nun neu und entsprechend der Möglichkeiten beantwortet. So weit, so gut – aber es gibt eine interessante Regelmäßigkeit bei dieser wiederkehrenden Lernherausforderung durch die Stufen hindurch. So schreibt Kegan:
»Auf jeder Stufe wird der Konflikt anders bewältigt. Der gesamte lebensgeschichtliche Entwicklungsprozess, den ich verfolgt habe, ist ein ständiger Wechsel zwischen Stufen, in denen der Konflikt zugunsten der Unabhängigkeit gelöst wird und Stufen, die zugunsten der Zugehörigkeit ausfallen.« (ebd. 150)
Für eine Darstellung dieser Abfolge müssen wir nun zu einer Bezeichnung für die Ebenen oder Stufen kommen. Ich wähle eine Mischung aus Benennungen dessen, was die Selbstentwicklung und die Weltsicht auf einer jeweiligen Stufe charakterisiert und verwende darüber hinaus den Farbcode, den Beck & Cowan für ihre Spiral Dynamics5 etabliert haben (Beck & Cowan 2011, 106 f.)
Eine erste grobe Einteilung der Entwicklung kann in die drei Bereiche präpersonal, personal und transpersonal vorgenommen werden, die jeweils noch einmal in drei Stufen oder Ebenen unterteilt werden – ich werde die einzelnen Stufen hier nur kurz skizzieren, damit ich im weiteren Verlauf zeigen kann, wie jeweils stufenspezifisch mit der Ur-Polarität und Polaritäten im Allgemeinen umgegangen wird:
Damit haben wir die Grundlagen geschaffen, um den Verlauf der Polarität Eigenständigkeit und Zugehörigkeit durch die Entwicklungsholarchie zu verfolgen (vgl. Abb. 4).
Abb. 3: Entwicklungsholarchie
© Gremmler-Fuhr 2012
Beginnen wir mit der BEIGEN Entwicklungsstufe6, der ersten, die angenommen wird und mit allerersten Differenzierungen aus einem undifferenzierten Sein startet. Auf dieser ersten Ebene vom Bewusstsein von Eigenständigkeit zu sprechen, ist sicher nicht sehr glücklich. Aber wo das Selbst so wenig abgegrenzt ist und es tendenziell immer um das nackte Überleben geht, ist das Leben gleichermaßen asozial und abhängig. Mit anderen Worten: Man ist im Extremfall beim Überleben angewiesen auf Hilfe weiter entwickelter oder gesünderer Anderer (bspw. als Säugling oder als Demenzkranker) bzw. der eigene Organismus ist zunächst primär damit beschäftigt, sich selbst zu erhalten (statt sich um andere zu kümmern oder für andere zu interessieren). Insofern ist hier sicher nicht die Gemeinschaft im Vordergrund, sondern individuelle grundlegende Interessen.
Dies ändert sich auf der PURPURNEN Stufe deutlich, denn nun versucht man, seine soziale Isolation zu überwinden, seine Bedürfnisse nach Sicherheit, seine Angstbewältigungen und seine Sehnsüchte in Beziehung zu anderen zu realisieren. Ursprünglich neue Erfahrungen dieser Stufe werden zunehmen, man bildet neue Gewohnheiten aus, Muster werden gelernt, und das Selbst integriert die Erfahrungen dieser Stufe. Darauf folgend werden die für die ROTE Stufe typischen neuen Herausforderungen oder auch Konflikte deutlich, und neue Antworten, Kompetenzen und Bewältigungen müssen gefunden werden. Das Selbst lernt sich nun wieder deutlich von der Gemeinschaft abzugrenzen, die eigene individuelle Identität steht stark im Vordergrund