Wenn ich behaupte, dass Fritz Perls die Struktur von polarer Differenzierung und Indifferenz von Friedlaender übernommen hat, dann meine ich, dass er sie auf die psychologische Ebene der Emotionen übertragen hat. Er hat damit nicht die existenziell tiefere – oder höhere? – Ebene im Fokus, um die es Friedlaender im Kern geht und die man mit Mystik in Beziehung setzen kann. Perls war beileibe kein Mystiker, auch wenn er ein gewisses Interesse für diese Aspekte hatte.
Wenn ich Friedlaenders Philosophie hier mit Mystik in Beziehung setze, dann geht es mir darum zu zeigen, wie existenziell tiefgehend und grundsätzlich sein Ansatz ist, im Blick auf das Thema Identität, wie auch auf Raum, Zeit und Materie, und nicht um der Gestalttherapie spirituelle Qualitäten zuzuschreiben.
4. Friedlaender und die Gestalttherapie – Thesen
Meine Überlegungen zur Bedeutung Friedlaenders für die Gestalttherapie werde ich hier in verdichteter Form als Thesen präsentieren. Ich habe sie in verschiedenen Publikationen ausführlich dargestellt, ausgehend von meinem Buch Identität und Befreiung (1994). Die Zusammenhänge, die ich hier thesenartig formuliere, können differenziert nachgelesen werden. Ich beziehe mich hier fast nur auf Fritz Perls, da die anderen Mitbegründer der Gestalttherapie, Paul Goodman und Lore/Laura Perls, nie explizit auf Friedlaender eingegangen sind.
1. Von seinem ersten Buch (1942) bis zu seinen letzten Veröffentlichungen hat Fritz Perls die Philosophie der schöpferischen Indifferenz von Salomo Friedlaender als eine Grundlage für sein Verständnis von Psychotherapie angesehen.
Die Einsichten seines »Gurus« Friedlaender hatten für Perls eine grundlegende Bedeutung, wie er an verschiedene Stellen prägnant formulierte. Prägnant, aber leider ist er nicht differenziert und ausführlich genug. Aber das hat er auch bei seinen anderen Quellen nicht getan!! Bei einer Darstellung der Gestalttherapie auf Friedlaender nicht einzugehen, in welcher Weise auch immer, ist historisch ignorant und fachlich unangemessen.
»Fritz Perls hat sich zu keinem Autor so vorbehaltlos bekannt wie zu Friedlaender. Diese Verehrung zog sich von Das Ich, der Hunger und die Aggression (1944) bis in die späten Jahre bruchlos durch. Sie betrifft ausschließlich das Werk Schöpferische Indifferenz.« (Blankertz/Doubrawa 2005, 76)
»Der vielleicht wichtigste Einfluss auf die Entwicklung der Gestalttherapie ist nebst Freud das Konzept der ›Schöpferischen Indifferenz‹, das philosophische Hauptwerk von Salomo Friedlaender.« (Bongers/Schulthess 2005, 14)
2. Die Grundstruktur von Friedlaenders Denken, nämlich polare Differenzierung und die Mitte der schöpferischen Indifferenz, findet sich bei Perls in etlichen Konzepten, wenn auch nicht explizit darauf Bezug genommen wird.
Die elementare Denkkonzeption Friedlaenders, Indifferenz und polare Differenzierung, kommt bei Perls in unterschiedlicher Wortgestalt zur Geltung wie z. B. Mitte, Zentrum, Nullpunkt, Nichts, Leere, Prä-Differenz, Gleichgewicht, Balance, Gegensätze, Pole, Polarisieren. »Der Polaritätsgedanke gehört zur Basis der Gestalttherapie.« (Hartmann-Kottek 2008, 141).Wenn man genauer hinsieht, lässt sich bei diesen Begriffen meist unschwer die Grundstruktur von Friedlaenders Philosophieren ausmachen, aber nicht in der angemessenen Deutlichkeit und mit explizitem Bezug. Hilarion Petzold schreibt in seiner Darstellung der Gestalttherapie (1984, 11):
»Bei Friedlaender findet Perls die Konzepte, die für die Entwicklung der Gestalttherapie entscheidend werden sollten. Als er später mit der Gestaltpsychologie in Kontakt kommt und mit der Organismus-Theorie von Kurt Goldstein, findet er dort eine Terminologie, die seiner Auffassung nach den Gedankengängen von Friedlaender entspricht: Das Konzept der Homöostase bzw. der organismischen Selbstregulation und das Figur/Hintergrund-Konzept. Der alleinige Rekurs auf diese Theorien, ohne den ideengeschichtlichen und philosophischen Hintergrund von Perls mitzusehen, führt aber zu einer Verkürzung (so Walter 1984). Gegenüber der funktionalen Betrachtungsweise der Gestaltpsychologie greift nämlich das Konzept des ›schöpferischen Ichs‹, das aus sich selber, aus seiner Lage undifferenzierter Innerlichkeit alle Differenzierungen in der objektiven Welt mitbewirkt, weiter.«
Das entspricht meiner Sicht dieser Zusammenhänge, die Perls wohl aber nicht wirklich reflektiert bewusst waren. Jedenfalls hat er das nicht explizit formuliert.
3. Das Vordergrund/Hintergrund-Konzept der Gestaltpsychologie wird von mir durch das Verständnis des Grundes ergänzt. Der Grund entspricht dabei der Schöpferischen Indifferenz bei Friedlaender.
»An dieser Stelle führe ich nun eine neue Unterscheidung ein. Sie wird normalerweise weder in der Gestalttheorie und -psychologie noch in der Gestalttherapie gemacht. Für das hier entwickelte Verständnis des Befreiungsprozesses der Identität – sowohl in der Gestalttherapie als auch im Zen und in der christlichen Spiritualität – ist sie von fundamentaler und entscheidender Bedeutung: Außer der Differenzierung in Vordergrund und Hintergrund muss noch der Grund erfasst werden, um die Dynamik des Gestalt-Prozesses ganz zu verstehen. Der Grund ist dabei als indifferent zu begreifen. Er entspricht dem, was Salomo Friedlaender als ›Schöpferische Indifferenz‹ bezeichnet.
Der als Gestalt oder Figur prägnante Vordergrund und der diffuse Hintergrund sind, entsprechend Friedlaenders philosophischer Erkenntnis, als polare Differenzierung zu verstehen. Indifferenz und polare Differenzierung als Grundkonzeption für das Verständnis des kreativen Prozesses der Wirklichkeit in der Philosophie von Salomo Friedlaender finden ihre Entsprechung im Verständnis von Grund und polarer Vordergrund/Hintergrund-Differenzierung im Gestalt-Ansatz.
Fritz Perls hat diese Entsprechung nie explizit formuliert und Grund und Indifferenz gleichgesetzt. Vorgeprägt durch Friedlaenders Philosophie hat ihn m. E. jedoch genau diese strukturelle Entsprechung am Gestalt-Ansatz fasziniert und angezogen, wenn er sich dessen auch nicht völlig reflektiert bewusst war.
Der Grund darf nicht mit dem Hintergrund verwechselt werden, wie das häufig in der Formulierung ›Figur/Grund‹ geschieht. Der Hintergrund ist diffus gegenüber dem prägnanten Vordergrund. Der Grund jedoch ist indifferent, er ist kein unterscheidbares Phänomen. Er ist das, was sich differenziert. Perls spricht, wie wir später sehen werden, in seinem Verständnis des Nichts der Implosionsschicht des Fünf-Schichten-Modells, das an, was unter dem Grund zu verstehen ist.« (Frambach 1994, 55)
Der Grund ist transdifferent. Er ist in der Differenzierung in Vordergrund und Hintergrund präsent in Überunterschiedenheit. Er ist das, was sich differenziert und damit als Phänomen existent wird.
4. Mit dem Grund als Entsprechung zur schöpferischen Indifferenz kann das von Fritz Perls mehrdeutig und unklar beschriebene »Fünf-Schichten-Modell« der Neurose als stimmiger Prozess verstanden werden.
Perls hat das »Fünf-Schichten-Modell« der Neurose an drei Stellen unterschiedlich und widersprüchlich beschrieben (1969, 145; 1974, 63/64; 1980, 101). Meine Interpretation beruht vor allem auf dem Bezug zu Friedlaenders Philosophie und dem Verständnis des transdifferenten Grundes. Dadurch wird eine stimmige Dynamik deutlich, die sich in den Phasen oder Stadien von Fixierung, Differenzierung, Diffusion, Vakuum und Integration ausdrückt. Im Vakuum wird die schöpferische Indifferenz oder der transdifferente Grund erfahren. Das ist der Punkt, auf den der Prozess, in einer unbegrenzten Variation von Intensität, Zeitdauer und Wiederholung, zuläuft, der Wendepunkt, der aber keineswegs in spektakulärer Weise erlebt werden muss, sondern oft erst im Nachhinein als solcher erkannt wird. Hier nun eine dichte Beschreibung dieses Prozesses. Ausführlicher und damit weniger Missverständnissen ausgesetzt kann das an anderer Stelle (Frambach 1994, 83–106) nachgelesen werden:
»Die ›Aufgesetzte Schicht‹ der Rollen und Spiele ist bei Perls die Ausgangssituation. Die neurotische Unfreiheit besteht prinzipiell in einer Fixierung auf bestimmte Aspekte der Identität, die den Vordergrund der Bewusstheit besetzt halten. Andere, aus welchen Gründen auch immer, nicht angenommene Aspekte der Persönlichkeit, werden mehr oder