Die Stadien Fixierung, Differenzierung, Diffusion, Vakuum und Integration des ›Fünf-Schichten-Modells‹, die in einer unendlichen Variation individueller Intensität, Zeitdauer, Wiederholung usw. durchlebt werden, ergeben sich als stimmiger Prozessverlauf, wenn man Friedlaenders polare Indifferenz-Philosophie als strukturierendes Interpretament anwendet und insbesondere Vorder- und Hintergrund als polare Differenzierung versteht sowie den Grund als Indifferenz. Wenn Perls diese Zusammenhänge auch nicht explizit herausgearbeitet hat, so finden sich bei ihm doch deutliche Hinweise darauf:
›Die grundlegende Lehre der Gestalttherapie ist die der Wesensdifferenzierung und der Integration. Die Differenzierung als solche führt zu Polaritäten. Als Dualitäten werden diese Polaritäten leicht in Streit kommen und sich gegenseitig paralysieren. Indem wir gegensätzliche Züge integrieren, machen wir die Menschen wieder ganz und heil. Zum Beispiel Schwäche und tyrannisches Verhalten integrieren sich als ruhige Festigkeit.‹ (Perls 1980, 155)
Klar kommt hier Perls’ grundsätzlich polare Sicht psychischer Dynamik zum Ausdruck. Es geht ihm darum, Dualitäten, einseitige Identifikationen mit eigentlich gleichwertigen psychischen Polen, zu ausgewogenen Polaritäten zu integrieren. In seinem Beispiel dreht es sich um die psychischen Fähigkeiten des Nachgebens (Schwäche) und sich Durchsetzens (tyrannisches Verhalten), die in isolierter Einseitigkeit eine negative, destruktive Qualität entwickeln. Nur wenn sie »gleich-gültig« komplementär aufeinander bezogen sind, ergänzen sie sich konstruktiv zur Ganzheit einer emotionalen Polarität, zu einer »ruhigen Festigkeit«, die flexibel und angemessen auf die Forderungen einer Situation antworten lässt.« (Frambach 1996, 14)
Dieses Prozessmodell der so genannten ›Fünf Schichten‹, eine nicht sehr glückliche Bezeichnung, ist für mich das Herzstück des psychotherapeutischen Ansatzes von Fritz Perls, wurde aber leider von ihm selbst nicht wünschenswert klar formuliert.
5. Struktur und Dynamik dieses Prozesses lassen sich auch auf der spirituellen Ebene nachweisen, beim Zen-Buddhismus und in der christlichen Spiritualität beim Hesychasmus, bei Meister Eckhart, der »Wolke des Nichtwissens«, Martin Luther und Gerhard Tersteegen. Es scheint, dass dieser Prozessverlauf für die Mystik charakteristisch ist, in kultur- und religionsübergreifender Weise.
Dieses Prozessverständnis wurde ja in praktischer und theoretischer Auseinandersetzung mit diesen drei Bereichen – Gestalttherapie, Zen und christliche Spiritualität – gefunden. Sie haben sich für mich gleichsam gegenseitig in einem inneren Polylog erklärt und geklärt. Dass die Prozessstruktur auch für den Aspekt des Transzendenten, des Religiösen, Geltung hat, bedeutet jedoch nicht, dass die Gestalttherapie selbst nun spirituelle Qualitäten hätte. Die Sphären von Psychotherapie und Spiritualität, Religion, Mystik usw. sind grundsätzlich zu trennen, wenn die Übergänge auch fließend sind:
»Psychotherapie will, vereinfacht ausgedrückt, die Entwicklung einer gesunden, d.h. stabilen und flexiblen Ich-Struktur ermöglichen. Spiritualität hingegen will, wie mehrfach aufgezeigt, das Ich überwinden, oder genauer, die egozentrische Position des Ich, das sich absolut setzt, relativieren. Beides ist für die menschliche Reifung wichtig: Ohne eine Ich-Struktur, die einigermaßen vollständig ausgebildet und gefestigt ist, kann auch kein Ich relativiert werden. Wo nichts ist, kann auch nichts überwunden werden. Der zweite Schritt kann nicht vor dem ersten erfolgen.
›Wo Es war, soll Ich werden‹ hat Sigmund Freud formelhaft das therapeutische Ziel seiner Psychoanalyse umrissen. Wollte man analog pointiert das Ziel von Spiritualität formulieren, dann könnte es lauten:
›Wo Ich war, soll Wir werden.‹
Der spirituelle Prozess, wie er sich in der christlichen Spiritualität, aber auch im Zen darstellt, zielt darauf, die egozentrische Fixierung auf das Ich aufzuheben und zu einem alles umfassenden, nichts und niemand ausschließenden Wir zu befreien.« (Frambach 1994, 286)
Wobei das spirituelle Wir im Sinne der Transdifferenz zu verstehen ist, nicht als simple Auflösung der Ich-Struktur in einer Wir-Einheit.
6. Friedlaenders Motiv von schöpferischer Indifferenz und polarer Differenzierung kann man der Sache, wenn auch nicht dem Namen nach auch in Gestalttherapie von Perls/Hefferline/Goodman ausmachen, nämlich im Verständnis des »Mittleren Modus« und des »Selbst«.
Zu Gestalttherapy (1951) hat Fritz Perls wohl nur eine Art Ideenmanuskript beigesteuert. Der theoretische Teil trägt eindeutig die Handschrift von Paul Goodman. Doch im Verständnis des Selbst und des Mittleren Modus ist die Philosophie von Friedlaender zu erkennen, die via Perls eingeflossen ist. Der hat sich später nie explizit auf Gestalttherapy bezogen.
Bei Goodman findet die Auffassung der schöpferischen Indifferenz oder des transdifferenten Grundes, der sich polar differenziert, eine strukturelle Entsprechung im Verständnis des Selbst, wenn er schreibt:
»Das Selbst ist nicht die Gestalt, die es bildet, sondern das Bilden der Gestalt, d.h. das Selbst ist das dynamische Verhältnis von Grund [m. E. müsste hier ›Hintergrund‹ stehen, L. F.] und Figur.« (Perls/Hefferline/Goodman, 1979b, 203 f.)
An anderer Stelle versteht Goodman Hintergrund und Figur (= Vordergrund) explizit polar: »Im Prozess sind Hintergrund und Figur Polaritäten.« (ebd. 202)
»Das Spontane ist zugleich aktiv und passiv, sowohl das, wozu man bereit ist, wie auch das, was einem zustößt, oder, besser, es ist ein mittlerer Modus zwischen Tun und Erleiden, eine schöpferische Unparteilichkeit, ein Desinteresse, nicht in dem Sinne, dass man nicht erregt oder nicht schöpferisch wäre, denn Spontaneität ist dies beides in außerordentlichem Maße, sondern als Einheit vor (und nach) der Trennung von Aktivität und Passivität, die beides einschließt.« (Perls/Hefferline/Goodman, 1979b, 164)
»Die Polarität von Aktivität und Passivität ist grundlegend für die menschliche Existenz. Besonders wenn es um Kreativität und Spiel geht, und auch um Spiritualität. Wenn man sich kreative Prozesse genauer ansieht, wird man feststellen, dass darin Aktivität und Passivität in eigentümlicher Weise verwoben sind. Ein Künstler, ein Wissenschaftler beschäftigt sich intensiv mit einer Fragestellung, sitzt fest, ist blockiert. Dann hat er einen Einfall. Es fällt ihm etwas zu. Er empfängt etwas. Dieses passive Moment ist meist auszumachen. Mit dem Gefühl der Freude ist dann das Gefühl der Dankbarkeit verbunden. Bei all der eigenen Anstrengung fühlt man sich auch beschenkt. In der Gestalttherapie wird dieses Ineinanderfallen,